Der doppelte Sinn des Schutzes von Kleingewerbe

Andrej Holm hat 2014 auf einer Veranstaltung darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, die Lebenserhaltungskosten von Menschen in Wohngebieten mit zu hohen Mieten niedrig zu halten. Je höher die Miete steigt, umso niedriger müssen Ausgaben für Lebensmittel und Fortbewegung, aber auch für medizinische Versorgung, Bildung und die Teilnahme am Kulturleben bleiben. So können hohe Mieten zumindest eine Zeit lang ausgeglichen werden. Eine langfristige Lösung ist das nicht, kann aber wichtig sein für eine Übergangszeit, innerhalb der eine stadtpolitische Bewegung bezahlbaren Wohnraum für die Menschen in Berlin erstreiten muss. Das ist sinnvoll, nur macht es in dieser Gesellschaft leider einen großen Unterschied, ob irgendjemand beliebiges etwas sinnvolles sagt, oder Spezialist.innen – zum Beispiel Aktivist.innen, Wissenschaftler.innen oder Politiker.innen. Andrej Holm hat versucht, all das zu sein, um das Richtige zu tun für diese Stadt: Sinnvolles nicht nur sagen, sondern auch helfen, dass es umgesetzt werden kann. Die Politik hat ihn letztlich verdrängt, aber wir haben nicht vergessen, was wir bei ihm gelernt haben.

Verdrängungsbedroht: Haushaltskram-Laden Bantelmann Betriebe Berlin in der Wrangelstraße 86

In Berlin steigen nicht nur die Mieten – das ganze Leben wird teurer. Die Kündigung des Café Filou in der Reichenberger Str. 86 ist einer von mehreren aktuellen Fällen in Kreuzberg, die diese Tendenz zeigen: Eine Kiezbäckerei, in der jede.r eben mal schnell Schrippen, Laugenstangen und Streuselschnecken kaufen gehen kann, soll aus der Nachbarschaft verschwinden. Die Londoner Eigentümer finden, sie passe nicht mehr ins Konzept des Kiezes – ihr Luxusneubau mit Ferienwohnungen und Restaurant im Erdgeschoss nebenan dagegen schon. Das Café Filou ist aber Teil jener Versorgungs-Struktur, die es vielen (natürlich sicher beileibe nicht allen!) Menschen ermöglicht, sich das Leben im Innenstadt-Ring auf einem würdevollen Niveau noch einigermaßen leisten zu können. Dieses anwohner.innen-orientierte Kleingewerbe folgt streng genommen natürlich auch der kapitalistischen Profitlogik, und ist gezwungen, Mehrwert zu erwirtschaften, mit allen Begleiterscheinungen, welche diese Wirtschafts- und Gesellschaftsform diktiert. Tatsächlich erfüllt es in den Berliner Kiezen trotzdem eine gesellschaftserhaltende Funktion: es gibt der Vielfalt in der Nachbarschaft eine ökonomische Grundlage. Solange es für Menschen mit unterschiedlichen Einkommen und sozialen Hintergründen das jeweils passende Versorgungsangebot gibt, solange also die Ökonomie des Viertels auf ein ökonomisch vielfältiges Bedürfnis eingestellt ist, haben die unterschiedlichsten Menschen, trotz höherer Mieten, noch eine Lebensgrundlage im Kiez. Wenn andererseits die Gemüseläden, Kiezbäckereien, Gemischtwarenläden und Restposten durch Szenebars und -restaurants, Boutiquen und Co-Working-Spaces restlos ersetzt werden, bedeutet das nichts anderes als die vollständige Umstrukturierung der Ökonomie des Viertels hin zur Bedienung eines teuren, exklusiven und damit für Viele ausgrenzenden Lebensstils. Steigen gleichzeitig die Mieten weiter wie bisher, wird der Kiez sehr bald nicht nur für Menschen mit geringem Einkommen unbewohnbar, sondern letztlich für alle, die ihre Arbeitskraft nicht in den boomenden Branchen Berlins verkaufen können. Schutz von Kleingewerbe macht also Sinn als Erhalt der ökonomischen Grundlage für wirklich sozial durchmischte Kieze.

Verdrängungsbedroht: Café Filou in der Reichenberger Straße 86

Andrej Holm wird nicht in der Politik tätig werden, aber sein wissenschaftliches Wirken bedeutet die politische Praxis. Denn der Erhalt der ökonomischen Grundlagen unserer gemischten Nachbarschaften, von deren sozialer Bedeutung er schon vor Jahren gesprochen hat, ist auch ein wichtiger Faktor für unseren politischen Kampf um eine andere Stadt von unten. Ohne eine vielfältige Ökonomie in den Kiezen schaffen wir es nicht, die Verdrängung der Menschen zu stoppen, die auf diese angewiesen sind. Ohne das anwohner.innen-orientierte Kleingewerbe schaffen wir es nicht, eine bewohner.innen-orientierte Stadt zu entwickeln.
Die kleinen Geschäfte sind nicht nur anonyme, auswechselbare Orte des Konsums, sondern lebendige Treffpunkte für Nachbar.innen, und ihre Betreiber.innen meist in das soziale Netz der umliegenden Gegend integriert. Sie reproduzieren nicht nur die starren ökonomischen Beziehungen zwischen Kund.innen und Verkäufer.innen, sondern stellen zusätzlich direkten zwischenmenschlichen Kontakt immer wieder her, der darüber hinaus geht. Genau in diesem Kontakt liegt die Möglichkeit für die Entstehung solidarischer Menschen, und die Erhaltung dieser Möglichkeit ist der zweite Sinn für den Schutz von Kleingewerbe. Wenn Kiez-Initiativen also gegen die Verdrängung von Kleinbetrieben aktiv werden, wenn diese wiederum ihre Räume und Ressourcen den Aktivist.innen gratis oder zu besonderen Konditionen zur Verfügung stellen, wenn Stadtteil-Gruppen von der Politik mehr Schutz für kleingewerbliche Strukturen in den Kiezen fordern, und aus Protest gegen die Verdrängung der kleinen Läden sich die Kieze selbst organisieren, dann ist das kein borniertes, nostalgisches Bedürfnis nach dem Erhalt des Alten und Bekannten. Es geht um eine Lebensader derjenigen Menschen, die eine stadtpolitische Bewegung benötigen, und um die Entstehung derjenigen Menschen, die sie benötigt.

Verdrängungsbedroht: Buchladen Kisch & Co in der Oranienstraße 25

Am Sonntag, den 12. Februar heisst es „fünf vor zwölf!“ für das Café Filou: wir organisieren um 11:55 Uhr eine Kundgebung vor der Bäckerei in der Reichenberger Str. 86, um unsere Forderungen einer Rücknahme der Kündigung durch die Eigentümer und einer langfristigen Bleibe-Perspektive, aber auch unsere Solidarität mit allen anderen bedrohten Kiez-Gewerben in Kreuzberg, laut hörbar zu machen.

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