Die Kiez-Kultur spricht für sich: Bericht von der 1. Kundgebung gegen die Räumung des Oranienspätis

Der Spätkampf beginnt kräftig! Bis zu 300 solidarische Menschen zeigten vergangenen Donnerstag, dass Familie Tunç und ihr Oranienspäti nicht alleine sind. Aufgelockert mit Musikeinlagen wurden mit vielfältigen Redebeiträgen verschiedene Aspekte des Kampfes gegen Verdrängung beleuchtet. Sicher ist: die widerständige und politische Kiez-Kultur ist längst nicht am Ende. Sie hat die Kraft ihrer eigenen Stimme entdeckt, und nutzt sie.

Die Kundgebung war aber nicht bloß Sammelpunkt der Unterstützungsbewegung für den Späti vor dem neu-errichteten Protest-Podest (aka. WiderStand) an der Oranienstraße 35. Sie bot ebenso anderen Initiativen und Aktivitäten eine Plattform. Die Redebeiträge, die gehalten wurden, zeichnen das Bild einer vielfältigen und starken politischen Zivilgesellschaft in Berlin.

Von Genossenschaften und Dachverbänden

Mitglieder der Luisenstadt e.G.

So erzählte ein Mitglied der Luisenstadt-Genossenschaft, zu der eine ganze Häuserzeile am Heinrichplatz gehört, wie diese aus den Kämpfen der Hausbesetzer*innen in den 80er Jahren entstand. Auf den Widerstand der Menschen gegen Abriss und Räumung der Häuser, folgte die Legalisierung und der kreditfinanzierte Aufbau der Luisenstadt eG. Diese bewirtschaftet bis heute ihren Bestand gemeinwohl- statt profitorientiert, z.B. mit Basismieten für Gewerberäume, flache Hierarchien bei der Entscheidungsfindung und die Bemühung um einen solidarischen Umgang in der Mieter*innenschaft.

Eine Aktive der OraNostra

So etwas ist natürlich eine Ausnahme innerhalb der kapitalistischen Marktlogik. Und diese wirkt im Mietmarkt für Gewerberäume besonders ungehemmt. Für den gibt es keine rechtliche Regulierung: es existiert weder ein Gewerbemietspiegel, noch ein Kündigungsschutz für Gewerbemieter*innen. Eine Aktive der Initiative von Gewerbetreibenden und sozialen Einrichtungen an der Oranienstraße, der »OraNostra«, nahm in ihrem Redebeitrag auf diesen Missstand Bezug. Sie sprach aber auch von den ersten Versuchen, auf die Bundesgesetzgebung Einfluss zu nehmen, um ihn zu beheben: Durch die kontinuierliche Arbeit der OraNostra in den vergangenen Jahren lancierte Berlin eine Bundesratsinitiative zur „Modernisierung des Gewerbemietrechts“. Und auch an der Basis will die OraNostra die Stimme der Gewerbemieter*innen durch den Aufbau eines Dachverbandes stärken.

Noch im Überlebenskampf ein Kiez-Treffpunkt: der Oranienspäti

Einen solchen haben Spätis in Berlin schon: den »Berliner Späti e.V.«, der sich angesichts des Verbots der sonntäglichen Öffnung von Spätis gegründet hat. Aktive aus dem Verein besuchten ebenfalls die Kundgebung, um auf die Bestätigung des Öffnungsverbots durch das Berliner Verwaltungsgericht hinzuweisen, und ihren Protest dagegen anzukündigen. Dieser beginnt mit einer Petition, die auch am Infotisch auslag, und bei der prompt viele Besucher*innen der Kundgebung für den Erhalt der Spätikultur auch am Sonntag unterschrieben. Der Berliner Späti e.V. hatte sich bereits auf der ersten Kundgebung im Jahre 2017 mit Zekiye Tunç und ihrem Oranienspäti solidarisiert.

Die Kiez-Kultur wird bedroht – ist aber auch widerständig

In der ganzen Stadt ist die Kiez-Kultur bedroht – aber es gibt Widerstand

Die fehlende rechtliche Regulation bei der Vermietung von Gewerberäumen und der Spekulations- und Mietenwahnsinn in Berlin bedrohen eine lange gewachsene Kiezkultur. Dies wird an vielen verschiedenen Orten in der Stadt in unterschiedlichen Fällen sichtbar. Zwei wurden durch Redebeiträge auf der Kundgebung beleuchtet.

Ein Aktiver der »Leute für die Meute«, also der Unterstützungsgruppe für die bedrohte Kollektivkneipe »Meuterei« in der Reichenberger Str. 58, erinnerte an deren prekäre Situation. Nach Auslaufen des Mietvertrages am 31.5. dieses Jahres, hängt die Meuterei in der Luft. Sie ist in derselben Situation wie der Oranienspäti. Und wie dieser gibt sie nicht auf: Die »Leute für die Meute« machten den Sitz des Briefkastens der Eigentümergesellschaft, Zelos Properes GmbH, neben denen auch vieler anderer Firmen in Zossen ausfindig. Die kleine Stadt am ein Steuerparadies für Immobilienfirmen in Brandenburg zu sein scheint, und fuhren am Samstag, den 6. Juli, hin, um gegen die Verdrängung in Kreuzberg zu protestieren.

Aktive der Kiezversammlung 44

Auf einen anderen Fall machten Aktive der Kiezversammlung 44 im Reuterkiez in Neukölln aufmerksam. Dort plant der neue Karstadt-Eigentümer René Benko, anscheinend einer der Bestecher*innen im Ibiza-Video-Skandal um den ehemaligen FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache, das Gebäude des Kaufhauses abzureissen und nach den Plänen von 1929 neu zu errichten. Dadurch soll dem Ort um den Hermannplatz sein „alter Glanz” zurückgegeben werden, was auch den Bezirksbürgermeister Neuköllns, Martin Heikel (SPD), zu freuen scheint. Dass so ein Bau die Verdrängung von Kleingewerbetreibenden in den umliegenden Kiezen verstärken wird, scheint, genau wie bei den Plänen für einen Google Campus in Kreuzberg, kein Thema zu sein. Damals hatte Bürgermeister Müller (SPD) die Pläne ausdrücklich begrüßt. Die Verkaufsfläche von Karstadt soll für den Neubau wesentlich verkleinert, die Gesamtfläche des Gebäudes massiv vergrößert werden. Der Boden soll also maximalen Profit abwerfen: eine Fläche von ungefähr 100.000 m2 könnte zu Höchstmietpreisen verwertet werden. Aus der Kiezversammlung heraus hat sich eine AG gegründet, um gegen den Abriss und Neubau zu mobilisieren. Die Kiezversammlung tagt jeden 1. Sonntag des Monats, in den Räumen des Jugendclubs »Manege« in der Rütlistr. 1-3 in Neukölln.

Immer wieder auch Erfolgserlebnisse – Widerstand lohnt sich

Eine Bewohnerin der Uranstraße 67

Dass Engagement und Widerstand sich angesichts dieser und anderer Gefahren auszahlen kann, davon handelten zwei der Redebeiträge gegen Ende der Kundgebung. Stellvertretend für ihren “Haus-Späti“ berichtete eine Aktive der neugegründeten Hausgemeinschaft »Urban67 bleibt« vom Protest gegen die vermeintliche Käuferin ihres Hauses: die Venture-Capital-Firma der Samwer-Boys »Rocket Internet«. Durch die Ausübung des bezirklichen Vorkaufsrechts konnte das Horrorszenario, zum Investitionskapital der ideen- wie skrupellosen Samwers zu werden, abgewendet werden. Auch, weil mit Hilfe von Bizim Kiez und Aktiven des ehemaligen Bündnisses »NoGoogleCampus« ein Widerstandsszenario aufgebaut wurde. Wenn Verdrängung droht, droht der Kiez eben zurück! Schlussendlich erinnerten uns zwei Nachbar*innen von der GloReiche Nachbarschaft, dass aus dem Widerstand gegen die Verdrängung des Café Filou vor zwei Jahren ein Mustermietvertrag für Gewerberäume entstanden ist, der in den kommenden Kämpfen um den Erhalt von kieznahem Kleingewerbe und sozialen Einrichtungen eine Rolle spielen könnte.

Mit eigener Stimme sprechen, rappen und singen

Ein Aktiver der GloReiche Nachbarschaft

Wie immer gab es auch auf dieser Kundgebung ein offenes Mikrofon, an dem Nachbar*innen spontan Infos und Ankündigungen, sowie wütende oder bestärkende Worte zum Programm beisteuern konnten. So berichteten Mieter*innen der Atelier-Räume in der Muskauer Straße 24. die bereits von Verdrängung heimgesucht wurden, dass in mittlerweile freigewordenen Räumen in ihrem Haus Start-Ups eingezogen sind. Unter ihnen auch »Space-Base«, das “Airbnb für Gewerberäume“. Space-Base vermietet in 10 Ländern weltweit kurzfristig und flexibel Räume für Meetings und Büroarbeit. Dieses Geschäftsmodell sitzt der deregulierten Rechtslage für Gewerbemieter*innen auf und zieht daraus Profit. Space-Base dürfte kein Interesse daran haben, wie die städtische Zivilgesellschaft darum kämpft, dass Läden und soziale Einrichtungen in den Städten wurzeln können.

Der kämpferische Nachbar von Familie Tunç

In dieser Sache besonders kämpferisch unterstrich ein Nachbar von Familie Tunç seinen spontanen Redebeitrag, indem er laut überlegte, dass auch drei Hundertschaften der Polizei nicht ausreichen dürften, um an der Oranienstraße die Interessen der Verdränger*innen durchzusetzen… Und dass Solidarität sich nicht nur auf der Ebene der Verdrängung von Mieter*innen bewegt, zeigte der Beitrag ein Mensch von »NoAfD-Berlin«, der über anstehende Aktionen gegen eine Veranstaltung in einem Raum der rechtsradikalen Partei in Lichterfelde informierte. Überall sind Kieze – überall ist Widerstand!

Rapper Beatyov

Die musikalische Begleitung der 1. Kundgebung gegen die Räumung des Oranienspätis lieferte der in dieser Sache routinierte Rapper Beatyov, der besonders mit seinen Freestyle-Einlagen begeisterte, und das Punk-Liedermacher-Duo »Solo-Sep und ein Stehrumchen«, das mit Songs zu Ferienwohnungen und zur Besetzung des Hauses des Verdrängers Padovicz begeisterte. Vielen Dank für eure Support!

Solo-Sep und sein Stehrumchen

Und zuletzt: danke an die tolle Nachbarschaft, die selbst nach über zwei Jahren Widerstand des Oranienspätis nicht müde geworden ist, sondern gerade jetzt aufzudrehen scheint! Ihr seid toll! Die nächste Veranstaltung gegen die Räumung des beliebten Spätis wird eine Demo am kommenden Donnerstag, 11. Juli. Beginnen wird sie vor einem Skandal-Haus der Bauwerk Immobilien GmbH an der Reichenberger Straße, in dem auch der für die Verdrängung des Spätis Verantwortliche, Michael Reinecke, sein „Kiez-Büro“ hat.

Hier geht’s zur Kiez-Demo gegen die Verdrängung des Oranienspätis im Terminkalender