Urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area: eine Einleitung

Bei dem folgenden Text handelt es sich um die Einleitung aus dem Buch »Technopolis – urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area«, herausgegeben von Katja Schwaller. Es versammelt 13 von der Herausgeberin übersetzte Beiträge über den Zusammenhang von Aufwertung, Verdrängung und boomender Tech-Industrie in San Francisco und der umliegenden Metropolregion, der Bay Area. Zu dieser gehört auch die Stadt Oakland und das Silicon Valley mit Ortschaften wie East Palo Alto.
Zwei zusätzliche Beiträge behandeln die Niederlassung von Google in Zürich und Berlin.
Die Kapitel des Buches werden in eckigen Klammern wiedergegeben, wo in der Einleitung auf sie Bezug genommen wird (hier geht es zum Inhaltsverzeichnis). Die Wiederveröffentlichung der Einleitung “Zuckerberg General“ auf diesem Blog erfolgt mit freundlicher Genehmigung von Katja Schwaller und dem Verlag Assoziation A.

Zuckerberg General

«Zuckerberg General Hospital» steht auf einem der ersten Schilder, das Besucher*innen begrüßt, die vom Süden her auf dem Highway 101 in San Francisco einfahren. Willkommen in einer Stadt, in der sogar das öffentliche städtische Krankenhaus den Namen eines notorischen Start-up-Gründers und Multimilliardärs trägt. «Sie befinden sich hier in einer Fantasiewelt reicher weißer Mittezwanziger», könnte die Stimme der Reiseleiterin eines einfahrenden Reisebusses verkünden, «hier regieren Engel und Einhörner!». Gemeint sind «Angel-Investor*innen», die gigantische Mengen Risikokapital in Start-ups stecken, bis diese zu sogenannten unicorns (Einhörner) heranwachsen, nämlich Start-ups mit einer Marktbewertung von über einer Milliarde Dollar. Tatsächlich sind solcherart Wesenheiten mit Uber, Airbnb, Dropbox, Palantir und Pinterest, die sich unter den höchstbewerteten Einhörnern der Welt tummeln, in der San Francisco Bay Area besonders häufig anzutreffen [Kapitel 1: “Tech City“]. Anders als im Märchen, ist aber kein Happy End in Sicht: In ihrer kapitalistischen Reinkarnation scheinen diese Fabelwesen wenig kompatibel, um mit den anderen Stadtbewohner*innen, die schon länger an den Ufern der Bay hausen, zu koexistieren. Letztere verlassen die Region aufgrund explodierender Mietpreise in solchen Massen, dass sogar die U-Haul-Trucks, die klassischen Umzugswagen der Amerikaner*innen, zu einer Mangelware geworden sind, die sich entsprechend gewinnträchtig vermieten lässt.

Tech-Busse als Symbol der Einnahme der Stadt durch privilegierte Tech-Arbeiter*innen

Bei einem Wirtschaftsboom wie dem «Tech-Boom 2.0» (im Anschluss an den «Dotcom-Boom» der späten 1990er Jahre) geht es eben längst nicht nur um die Produkte der eigentlichen Boom-Industrie – in diesem Fall technologische Innovationen aus dem Silicon Valley –, sondern es lässt sich fast alles zu Gold machen, was der Unterbringung, Einkleidung und Verpflegung der Argonaut*innen dient. Das war auch 1849 nicht anders, als das heutige San Francisco aus dem Treiben rund um den Goldrausch emporschoss, wo einst die Ohlone Indians lebten. Einer der einträglichsten Wirtschaftszweige und direkte Folge dieser Landnahme ist dabei die Boden- und Immobilienspekulation. Bereits 1885 riet William Randoph Hearst, der hier später zum größten Medienmagnaten des 20. Jahrhunderts und Kriegstreiber erster Sorte aufsteigen sollte, seinem Vater George, das in den lokalen Goldminen gemachte Vermögen in Immobilien anzulegen: «Der Grundherr sitzt ruhig auf seinen väterlichen Äckern und übersieht die Situation mit größter Gelassenheit, im Wissen darum, dass jedes menschliche Atom, das zu der sich abmühenden Masse hinzugefügt wird, eine weitere Ziffer auf seinem Bankkonto bedeutet.»1

Heute gehören die Miet- und Immobilienpreise San Franciscos zu den teuersten der Welt. Hier lässt sich alles vermieten, was im Entferntesten an einen Schlafplatz erinnert: ein Zelt im Garten oder auf einer Dachterrasse, eine Art Schlafkiste im WG-Wohnzimmer, ein Viertel eines Zimmers, das mit fremden Menschen geteilt wird, Stockbetten in Massenschlägen für über 1.000 Dollar pro Stück, kleinste Mikro-Wohnungen, Wohnmobile, eine Couch …. Wo ein Markt ist, ist auch ein Weg, scheinen sich viele Vermieter*innen zu sagen, die zu immer fieseren Tricks greifen, um langjährige Mieter*innen loszuwerden,um danach das Doppelte, Dreifache oder auch Zehnfache zu verlangen [Kapitel 3: “AEMP“]Sogar die Verdrängung alteingesessener Bewohner*innen kann also zu einer Goldgrube werden, wie sich unter anderem auch an den astronomisch hohen Mietkosten für U-Haul-Trucks ablesen lässt. Und so sind Trauben von Menschen, die die Stadt verlassen, und Umzugswagen als Mangelware durchaus ein treffendes Symbol für die strahlenden Boom-Towns des globalen Techno-Kapitalismus – auch wenn man dabei vielleicht zuerst an eine von allen guten Geistern verlassene Kleinstadt im Mittleren Westen, und damit an Globalisierungsverlierer, denken würde.

Kundgebung in San Francisco, 2015: „Bezahlbarer Wohnraum – keine Luxus-Türme“

Denn auch der Zustrom von Reichtum kann eine Stadt in die Knie zwingen. Besonders, wenn dieser aus einer Industrie stammt, die ganz auf die Zerschlagung von öffentlichen Einrichtungen und sozialstaatlichen Leistungen setzt (Disruption) und das «unternehmerische Subjekt» zum neuen Maßstab erhebt (The Innovator). Eine Industrie zudem, die astronomisch hohe Löhne und umfassende Serviceleistungen für hochqualifizierte Fachpersonen wie Programmierer*innen und Softwareentwickler*innen bietet, die mehrheitlich aus anderen Landesteilen oder Weltregionen zuziehen und überwiegend jung, männlich und weiß oder asiatisch sind.Eine Industrie, die aber gleichzeitig auf einem globalen Netzwerk von ausgelagerten Zulieferbetrieben, Fabriken und Bergbauminen sowie der miserabel bezahlten Arbeit Hunderttausender in den firmeneigenen Cafeterien, der Gebäudereinigung und anderen reproduktiven Tätigkeiten basiert. Diese Arbeiten werden oft von Migrant*innen oder Arbeitskräften im Globalen Süden ausgeführt, wobei hier Frauen sehr viel zahlreicher vertreten sind und ihre Jugendlichkeit unter den harten Arbeitsbedingungen zumeist nicht lange währt. Kurz, eine Industrie, die mit ihrem «Union Busting» (Plattmachen von Arbeiter*innen-Organisationen) und ihren hochprekarisierten Arbeitsmodellen – Stichwort Uber-Fahrer – maßgeblich zur Verschlechterung der Lebensbedingungen vieler Menschen außerhalb der privilegierten Tech-Headquarters beiträgt [Kapitel 13: “Silicon Valley Rising“, Kapitel 5: “Im Hinterhof von Silicon Valley“, Kapitel 1: “Tech City“, Kapitel 6: “Twitterlandia“].

 

San Francisco gehört deshalb nicht nur zu den teuersten Städten der Welt, sondern verzeichnet auch größere und schneller wachsende soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten als die meisten Orte in den USA. Konkurrenz gemacht wird ihr dabei fast ausschließlich von anderen Städten der Metropolregion Bay Area, wie etwa Oakland oder San Jose, die heimliche Hauptstadt des Silicon Valley. Denn der Tech-Boom hat längst eine regionale Dimension angenommen, genauso wie die dadurch mitverursachten städtischen Krisen: Wohnungsnot, Obdachlosigkeit, Kriminalisierung von Armut, Prekarität, Überlastung der öffentlichen Infrastruktur, Abwanderung von essentiellen Dienstleistern wie Lehrpersonen und Feuerwehrleute, die sich das Leben in der Hochpreisinsel Bay Area nicht mehr leisten können, Re-Segregation und Ex-Urbanisierung von Communities of Color, die zunehmend an den Stadtrand und in die Vororte abgedrängt werden und immer längere Pendelwege auf sich nehmen müssen … [Kapitel 9: “Murales in der Mission“, Kapitel 10: “Sanctuary City in der Hightech-Metropole?“, Kapitel 7: “Evicting the Evicted“]

Blockade eines Google-Busses, 2014. Das Transparent nennt einen Mitarbeiter von Google, der als Hauseigentümer seine Mieter*innen verdrängen wollte (Foto: Marko Muir)

Zum eigentlichen Symbol dieser Entwicklung sind die sogenannten «Google-Busse» geworden. Dabei handelt es sich um firmeneigene Shuttle-Busse, mit denen Tech-Unternehmen wie Facebook, Apple, Yahoo oder eben Google ihre Mitarbeitenden zwischen Stadt und Arbeitsort im rund 70 Kilometer entfernten Silicon Valley hin- und herchauffieren. Diese doppelstöckigen, luxuriösen Busse mit ihren getönten Fensterscheiben nutzen zwar die öffentlichen Bushaltestellen, nehmen aber nur hochbezahlte Programmierer*innen und Softwareentwickler*innen an Bord. Dies führt seit 2013 immer wieder zu Protestaktionen und Blockaden der riesigen Privatliner, die für die Etablierung eines immer perfideren Zweiklassensystems mitverantwortlich gemacht werden: Während die einen bequem im Ledersessel des mit Wifi ausgerüsteten Google-Busses sitzen, wird der öffentliche Verkehr durch die riesigen Flotten an privaten Shuttlebussen aktiv behindert und ausgeblutet. Wer die Wohnung an Besserverdienende verliert, muss in Zukunft zudem häufig lange Pendelwege in Kauf nehmen – aufgrund des schlechten ÖVs oft im eigenen Auto. Google-Bus-Stopps werden von der Immobilienindustrie schließlich auch dafür benutzt, um eine Nachbarschaft symbolisch aufzuwerten und für Tech-Angestellte attraktiv zu machen, wodurch Mietpreise und Kündigungen kräftig in die Höhe geschraubt werden. Die Google-Busse stehen daher exemplarisch für die zunehmende Privatisierung und Kommodifizierung des städtischen Raums durch Tech-Unternehmen (von Uber über Airbnb bis Google Urbanism), die katastrophale Wohnungsnot und Verdrängung langeingesessener Bewohner*innen sowie die zunehmende Prekarisierung des Arbeitsmarktes, wofür auch der treffende Begriff «Techsploitation», also Tech und Ausbeutung, geschaffen wurde. [Kapitel 3: “AEMP“, Kapitel 6: “Twitterlandia“]. Diese Zusammenhänge, die von Befürworter*innen der privaten Shuttles gerne hinter angeblich «grünen» Argumenten verschleiert werden, mögen komplex sein. Für jene, die davon am meisten betroffen sind, sind sie jedoch oft intuitiv verständlich. Bei einer Blockadeaktion im Sommer 2018 in San Franciscos Mission-Viertel gab es zum Beispiel zu Beginn eine heikle Situation, in der ein einzelner Aktivist einsam mit seinem Rad vor einem Tech-Shuttle lag, während sich das verkleidete Protesttrüppchen noch im Anmarsch befand. Ein Obdachloser, der sich in der Nähe aufhielt, erkannte die Situation sofort und schob ohne zu zögern den Karren mit seinem Hab und Gut vor den strahlend weißen Google-Bus, um der Blockadeaktion damit Nachdruck zu verleihen.

Google-Busse mögen zu den bekanntesten Bildern der lokalen Hypergentrifizierung gehören. Doch längst sind es nicht mehr nur die Angestellten von Tech-Unternehmen, die lieber in Städten wie San Francisco und Oakland leben wollen, statt in den konformistischen und exklusiven suburbanen Weiten des Silicon Valley. Auch ihre Arbeitgeber*innen entdecken zunehmend die Vorteile eines zentrumsnahen Standorts und das Kreativpotential urbaner Räume, das nun für die wissensbasierten Produktionsprozesse der Innovationsindustrie angezapft werden soll. Beschleunigt wurde diese Entwicklung durch den sogenannten «Twitter Tax Break», einen 2011 verabschiedeten Steuerdeal für Start-ups und Tech-Unternehmen, die sich im Mid-Market Quartier niederlassen, einem (ehemals) heruntergekommenen Teil der Innenstadt, der schon lange im Fokus diverser Aufwertungsprogramme stand.

„Tech ist nicht Kultur – Eigentumswohnungen sind nicht Community“

Seither hat die Ansiedlung von Unternehmen wie Uber, Dolby, Square, Twitter und Salesforce in Downtown San Francisco die sozialen Gegensätze noch weiter auf die Spitze getrieben: Tech-Angestellte sonnen sich in den neuen post-öffentlichen Räumen ihrer disruptiven Arbeitgeber (aka «The Commons») oder in teuren Cafés mit hippen französischen Namen wie «Bon Marché» (günstig), während der öffentliche Raum für die vielen Obdachlosen, die inmitten der High-Tech-Welten ohne Zugang zu elementaren Dingen wie sanitären Anlagen überleben müssen, immer unwirtlicher wird [Kapitel 6: “Twitterlandia“]. Tech-Ikonen wie Elon Musk sinnieren eben lieber darüber nach, auf welchen Planeten sie ihre eigene Person nach dem Kollaps der Erde beamen möchten, anstatt an der Lösung von Problemen mitzuarbeiten, die sich in unmittelbarer Nähe ihrer Konzernstandorte abspielen und von ihnen mitverursacht werden. Stattdessen wird die Kriminalisierung und Entrechtung von Menschen ohne Dach über dem Kopf mit der zunehmenden Gentrifizierung immer weiter vorangetrieben, obgleich San Francisco bereits über einige der fiesesten Anti-Obdachlosen-Gesetze in den ganzen USA verfügt und die Krise dadurch in all den Jahren keineswegs gemildert wurde [Kapitel 7: “Evicting the Evicted“].

Ganz im Gegenteil sind die Obdachlosenzahlen durch den Tech-Boom regional stark angestiegen, insbesondere in Orten wie Oakland, East Palo Alto oder Richmond, die lange eher mit wirtschaftlichen und staatlichen Desinvestitionen, Leerstand und der Stigmatisierung als «gefährliche Orte» zu kämpfen hatten. Solche über Jahrzehnte verankerte und oft rassistisch geprägte strukturelle Bedingungen ebneten dabei gerade den Boden für die jüngsten Gentrifizierungswellen. Dazu gehören beispielsweise Redlining, wodurch ab den 1930er Jahren und bis in die späten 1970er Jahre ganze (nicht-weiße) Nachbarschaften von Banken als kreditunwürdig eingestuft wurden; Blockbusting, wobei die Immobilienindustrie Vorurteile gegenüber African Americans instrumentalisierte und zusätzlich befeuerte, um ganze Quartiere zu «kippen» und dadurch die Preise sinnlos in die Höhe zu treiben; oder Urban Renewal, staatlich subventionierte «Stadterneuerungsprogramme», die in der Nachkriegszeit zur Kahlschlagsanierung vieler innerstädtischer und insbesondere schwarzer Nachbarschaften führten [Kapitel 2: “Von Urban Renewal bis Gentrification“, Kapitel 5: “Im Hinterhof von Silicon Valley“]. Dazu gehören aber auch die ausgeklügelten Instrumente der Finanzspekulation und die aggressive und unlautere Kreditvergabe insbesondere an People of Color (POC), die ab 2007 zur Subprime-Krise führten (sogenanntes Reverse Redlining, also die gezielte Traktierung genau jener Bevölkerungsschichten, die lange vom «American Dream» des Hausbesitzes ausgeschlossen waren).

Kundgebung gegen Zwangsräumung im Mission District (Foto: Marko Muir)

Allein in Oakland wurden dabei mehr als 10.000 Häuser durch Banken – darunter maßgeblich auch die Deutsche Bank – zwangsenteignet. Viele davon gingen in Folge an große Spekulant*innen über, welche die «Krise» nur allzu gut zu ihren Gunsten zu nutzen wussten. Eine Studie der NGO Urban Strategies Council kam 2011 zum Schluss, dass 42 Prozent aller zwischen 2007 und 2011 zwangsenteigneter Häuser in Oakland von großen Investor*innen aufgekauft wurden, wovon viele nicht in Oakland angesiedelt sind. Einige davon waren davor als Hypothekenmakler*innen tätig gewesen, was bedeutet, dass sie nicht nur Zugang zu Insider-Wissen, sondern die Krise vielleicht sogar mitverursacht hatten [Kapitel 8: “Ist Oakland das neue Brooklyn?“, Kapitel 3: “AEMP“].

Sicher ist nur, dass durch die Zwangsenteignungen gleich zum Auftakt des Tech-Booms 2.0 die Eigenheime von Zehntausenden von hauptsächlich nicht-weißen Gruppen in Orten rund um die Bay an den Markt übergingen und damit zu eigentlichen Speerspitzen der Gentrifizierung wurden. Einfamilienhäuser sind nämlich überall in der Bay Area vom Mieter*innenschutz ausgenommen, was sie zu vorzüglichen Spekulationsobjekten macht, die zu exorbitanten Preisen vermietet werden können. Während die Immobilienindustrie diesen «rent gap» (Neil Smith 1979), also die Diskrepanz zwischen aktuellen und potentiellen Renditen von Mietobjekten, höchst gewinnbringend auszuschlachten weiß, ist diese Entwicklung für die betroffene Bevölkerung in Orten wie East Palo Alto und Oakland besonders fatal. Denn wie sollen sich Menschen mit niedrigen Einkommen, die bislang in den letzten günstigeren Zipfeln der Bay Area gelebt haben, plötzlich die astronomischen Markpreise leisten können, die überall sonst vorherrschen?

Aber selbst für jene, die bislang noch an einer mietpreiskontrollierten Wohnung festhalten konnten oder über Jahrzehnte eine Hypothek abbezahlt haben, verändert sich die Umgebung mit dem Einfall von Tech-Kapital rasant. Nachbar*innen, Bekannte und Arbeitskolleg*innen verschwinden nach und nach, genauso wie die Eckkneipe, die Panaderia, der linke Buchladen, das Community-Center, der asiatische Fischmarkt: priced out. Solche Bezugspunkte gewinnen jedoch gerade dann an Bedeutung, je mehr und je schneller sich eine Stadt in einen Ort verwandelt, den viele langjährige Bewohner*innen nicht nur kaum mehr wiedererkennen, sondern zunehmend als abweisend, unzugänglich oder sogar feindlich wahrnehmen. Denn ohne solche Marker von Zugehörigkeit oder Spuren von gelebter Geschichte wird alles irgendwie beliebig und austauschbar, die städtischen Qualitäten gehen verloren oder werden in Zukunft nur noch in Immobilienwerbungen und Plakaten für den neuen Luxus-Hundesalon beworben.

Demonstration gegen Gentrifizierung im Mission District, 2015

Die Präsenz jener Menschen, die eine Nachbarschaft für andere erst attraktiv gemacht haben, wird dabei oft einfach ausradiert, zum Beispiel, indem das traditionell schwarze West Oakland als «The New Edge of Silicon Valley» angepriesen wird, oder ein Teil der Mission, das Latin@-Viertel San Franciscos, plötzlich als «The Quad» vermarktet wird. Die Bezeichnung «Mission» sei eben nicht gut fürs Geschäft, erklärte die Immobilienmaklerin Jennifer Rosdail, weil viele dabei immer noch an einen gefährlichen (sprich von nicht-weißen Gruppen bewohnten) Ort denken würden. Dabei gebe es hier bereits viele Blocks, wo bereits so hohe Immobilienpreise erzielt würden wie sonst nur für Luxusappartements im Financial District. Darum habe sie den «Quad» erfunden: «Quadsters sind jung – unter 40 sicherlich. Sie hängen gerne mit ihren Freunden in der Sonne ab. Sie arbeiten sehr hart – vorwiegend in High-Tech – und verdienen viel Geld. (…) Sie nehmen den Google-Bus, den Apple-Bus oder den angeblich etwas schlechter ausgerüsteten eBay-Bus. Sie stehen auch auf richtig gutes Essen, haben aber nicht oft Zeit zum Kochen.» Diskursiv wird hier also ein Raum geschaffen, der vollkommen auf die Bedürfnisse von gutverdienenden Zuzügler*innen ausgerichtet ist, während Communitys, die hier seit Jahrzehnten leben, höchstens noch als Tellerwäscher im hippen Gourmet-Restaurant mitgedacht werden. Und das hat ganz reale Auswirkungen im städtischen Raum [Kapitel 11: “Gentrifizierte Vorstellungswelten“, Kapitel 9: “Murales in der Mission“, Kapitel 8: “Ist Oakland das neue Brooklyn?“].

Im Extremfall können solche diskursiven Verschiebungen und die damit einhergehenden Transformationen des städtischen Raums sogar zu Vorfällen führen, die auch schon als «Tod durch Gentrifizierung» bezeichnet wurden, wie etwa im Fall von Alex Nieto, der als Latino von weißen Zuzüglern vorschnell als «gefährlich» stigmatisiert und von der herbeigerufenen Polizei umgehend erschossen wurde. Amilcar Perez-Lopez, Luis Góngora Pat, Jesus Adolfo Delgado, Jessica Nelson, Mario Woods, Oscar Grant – die Liste von Opfern tödlicher Polizeigewalt in der Bay Area der letzten paar Jahre ließe sich fortsetzen. Die Ursachen dafür sind insbesondere in tiefsitzenden rassistischen Zuschreibungen, über Jahrzehnte verankertem strukturellem Rassismus sowie einer militärisch hochgerüsteten, aber schlecht ausgebildeten Polizei zu suchen, wie uns die Black Lives Matter Bewegung gelehrt hat.

Demonstration aus Protest gegen die Erschießung von Luis Gongora-Pat in San Francisco, 2017

Aber auch ein veränderter Stadtraum und die zunehmende Prekarisierung und Kriminalisierung von armen und nicht-weißen Menschen als Beiprodukt der Gentrifizierung haben dazu beigetragen, gewisse Menschen noch vulnerabler für solche Übergriffe durch die Staatsgewalt – oder durch besonders selbstherrliche Zuzügler*innen – zu machen [Kapitel 4: “Take This Hammer…“, Kapitel 3: “AEMP“, Kapitel 7: “Evicting the Evicted“].

Ausgerechnet in Oakland, dem Geburtsort der Black Panthers, riefen Zuzügler*innen etwa die Polizei, weil Schwarze im Stadtpark am Lake Merritt grillierten, weil dort zu besonderen Anlässen in Gruppen getrommelt wird oder weil die Gospel-Gesänge aus einer Kirche zu laut seien. Gleichzeitig machte ein Video Furore, indem ein Jogger in einem selbstmächtigen Akt das Hab und Gut eines Obdachlosen in ebendiesen See warf, der zu einem eigentlichen Sinnbild der laufenden städtischen Auseinandersetzungen und kulturellen Umwertungen geworden ist. Die Antwort ließ nicht lange auf sich warten, mit Hunderten, die rund um den Lake Merritt an einem «BBQ‘n while Black»-Event teilnahmen. In San Francisco wiederum hetzte eine weiße Frau die Polizei auf ein achtjähriges Mädchen, das vor ihrem Haus Wasser verkaufte, ein Mann in schickem Anzug wurde dabei gefilmt, wie er einen Obdachlosen zusammenschlug und eine Gruppe weißer Dropbox- und Airbnb-Angestellter wollte Latino-Kids von ihrem angestammten Fußballplatz vertreiben, weil sie das Feld über eine App gebucht hätten. Und tatsächlich hatte die Stadt, in einem Schulterschluss mit der Tech-Industrie, das eigentlich öffentliche Feld zur Online-Buchung ausgeschrieben – gegen eine Gebühr. Letzteres ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Tech-Industrie mit ihren Produkten und Geschäftsmodellen oft aktiv zur Privatisierung ihrer Gaststädte beiträgt und immer weitere Bereiche des Alltagslebens der Marktlogik unterwirft. Und plötzlich ist der Zugang zu einst kostenlosen und öffentlichen Gütern nur noch möglich, wenn man über eines dieser fetischisierten Tech-Produkte und das nötige Kleingeld verfügt [Kapitel 6: “Twitterlandia“].

Black Lives Matter Kundgebung in Oakland, 2015

Trotz all dieser negativen Auswirkungen benehmen sich viele Tech-Konzerne noch immer so, als wären sie eine Art Preis für eine Stadt, die es schafft, eines ihrer Headquarter oder Verarbeitungszentren anzulocken – oft im Gegenzug für millionenschwere Steuerdeals und andere öffentliche Subventionen. Doch die negativen Auswirkungen solcher «Klein-Silicon-Valleys» auf ihre unmittelbare Umgebung werden immer offensichtlicher: extreme ökonomische Ungleichheit, astronomisch hohe Mieten, Massenobdachlosigkeit, Privatisierung öffentlicher Infrastruktur, Prekarisierung des Arbeitsmarktes und Verdrängung ganzer Bevölkerungsgruppen. Die Zahlen sprechen für sich: So hat die schwarze Bevölkerung in Oakland seit den frühen 2000er Jahren um über 25 Prozent abgenommen, während gemäß Hochrechnungen allein in San Franciscos Mission-Viertel bis 2025 rund 8.000 Latin@s ihr Zuhause verloren haben werden und San Francisco die einzige größere US-Stadt ist, in der die Latin@-Bevölkerung gegenwärtig rückläufig ist – in völliger Umkehrung des sonst vorherrschenden demographischen Trends. In East Palo Alto wiederum, im lange vernachlässigten Hinterhof des Silicon Valley, hat die Verdrängung von Familien mit niedrigen Einkommen derartige Ausmaße angenommen, dass sogar die Finanzierung der öffentlichen Schulen in Frage gestellt ist [Kapitel 8: “Ist Oakland das neue Brooklyn?“, Kapitel 9: “Murales in der Mission“, Kapitel 5: “Im Hinterhof von Silicon Valley“].

Vergessen wird dabei gerne, dass es eben nicht die «Innovators» sind, die die Tech-Industrie – und die städtische Wirtschaft überhaupt – am Leben erhalten. Ohne die Arbeit von Zehntausenden im Billiglohnsektor des Silicon Valley würde auch in Städten wie San Francisco erst mal gar nichts laufen. Da könnte man noch so lange einen kleinen Klick auf einer Online-Applikation betätigen. Ohne Menschen, die dann die 50 Kilo Katzenfutter im Amazon-Verarbeitungszentrum auf einen Lastwagen hieven oder innerhalb von Sekunden zur Uber-Fahrerin mutieren, passiert gar nichts – auch wenn uns solche Apps und Serviceangebote gerne in anderweitigem Glauben lassen. Tech umfasst Unmengen manueller Arbeit; Aufgaben, die nicht selten gesundheitsschädigend, gefährlich und auf der Ausbeutungsskala ganz weit oben angesiedelt sind. Doch sogar in diesem Sektor, wo besonders viele vulnerable Menschen wie Sans-Papiers arbeiten und der gewerkschaftlichen Organisierung viele Hürden in den Weg gestellt werden, regt sich zunehmend Widerstand.

Protestkundgebung solidarischer Tech-Arbeiter*innen in Downtown San Francisco, 2017

So finden neuerdings auch am anderen Ende der Google-Bus-Route Proteste statt. Nämlich dort, wo Konzerne wie Google auf ihren suburbanen Campus-Anlagen ausgedehnte Volleyballfelder und andere Vergnügungen für ihre hochbezahlten Angestellten unterhalten. Politische Demonstrationen waren diesen Orten etwa so fremd wie den privatisierten Konsumwelten großer Einkaufszentren. Doch nun finden sie statt: Walk-outs gegen sexistische Praktiken am Arbeitsplatz, Proteste von Anwohner*innen, die durch die Tech-Industrie zunehmend verdrängt werden, gewerkschaftlich organisierte Tech-Cafeteria-Angestellte, die für bessere Löhne demonstrieren, Programmierer*innen und Softwareentwickler*innen, die sich unter dem Motto «Tech won’t build it» gegen die Zusammenarbeit ihrer Firma mit dem Pentagon oder der Immigrationsbehörde ICE einsetzen. Was dabei am meisten Hoffnung macht: Solidarisierung zwischen diesen verschiedenen Gruppen, die insbesondere seit Trumps Amtsantritt vereinzelt zu beobachten sind [Kapitel 13: “Silicon Valley Rising“, Kapitel 5: “Im Hinterhof von Silicon Valley“, Kapitel 1: “Tech City“, Kapitel 10: “Sanctuary City in der High-Tech-Metropole?“].

Und die Warnsignale aus der San Francisco Bay Area werden zunehmen erhört. New York City ist eine der Städte, die stattdessen gesagt hat: Nein danke, wir wollen kein Amazon HQ2! Und dies, nachdem die Stadt drei Milliarden Dollar an Steuererleichterungen geboten hatte, um den Deal an Land zu holen. Andauernde Proteste aus der Bevölkerung und von Gewerkschaften, die sich gegen die «Open-Shop»-Politik von Amazon zur Wehr setzten, haben dazu geführt, dass Jeff Bezos das Projekt nach gerade einmal drei Monaten wieder zurückzog – ein großer Erfolg für die Protestbewegung! Und auch in Berlin, wo Google ausgerechnet in Kreuzberg einen neuen Campus, bzw. eine Art Start-up-Farm eröffnen wollte, ist dem Konzern so viel Widerstand entgegengeschwappt, dass das Projekt zumindest vorläufig beerdigt wurde. Diese Beispiele zeigen, dass Entwicklungen à la San Francisco nicht unaufhaltbar sind und die Pläne von Big Tech mit Widerstand von unten durchkreuzt werden können. Berlin und New York sind erst der Anfang in einer Protestbewegung, die sich zunehmend international vernetzt und dabei die Gentrifizierung vor der Haustür mit den ausbeuterischen Arbeitspraktiken und der zunehmenden Überwachung und Manipulation durch Tech-Konzerne in Beziehung setzt [Kapitel 15: “Rage against The Suchmachine“].

Tech-Bus-Blockade und Kundgebung gegen den Zusammenhang von Gentrifizierung und Tech-Industrie im Mission District, 2018 (Foto: Marko Muir)

Und das ist auch das Anliegen dieses Buches, so bescheiden sein Betrag auch ausfallen mag: Debatten anzustoßen und mit den Beispielen aus der San Francisco Bay Area zu einem besseren Verständnis gewisser Prozesse und Entwicklungen beizutragen, die sich zunehmend auch an anderen Orten bemerkbar machen. Die Bay Area mag in gewisser Weise das Laboratorium der High-Tech-Industrie aus dem Silicon Valley sein. Doch Letztere ist eine globale Operation: Von den iPhone-Fabriken im chinesischen Shenzhen zu den Bergbauminen im Kongo, von den Amazon-Verarbeitungszentren in Virginia zum gigantischen neuen Google-Campus in San Jose, von der geplanten Smart City in Toronto bis zur Start-up-Szene in Berlin oder der Europaallee in Zürich [Kapitel 14: “Europ Allé Googl é“].

San Francisco, so viel mag hier noch verraten sein, is still doomed, wie die lokale Punkband Crime bereits in den späten 1970er Jahren konstatierte. But it’s not quite dead yet.

Katja Schwaller
San Francisco, Februar 2019

»Technopolis – urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area«, herausgegeben von Katja Schwaller, ist erschienen im Juni dieses Jahres bei Assoziation A, umfasst 232 Seiten und kostet 19,80 Euro


  1. Gray Brechin: Imperial San Francisco. Urban Power, Earthly Ruin, Berkeley 2006, S. 68

Ein Kommentar zu “Urbane Kämpfe in der San Francisco Bay Area: eine Einleitung

  1. Johann Q

    Spannendes Thema, finde ich. Werde mir das Buch – und ein anderes, über jüdische Emigration nach Uruguay – gleich bei Assoziation A bestellen. Eigentlich würde ich solche Texte immer lieber im englischen Original lesen, aber mich interessiert da schon auch die Zusammenstellung, welche Texte da eine deutsche Autorin für am wichtigsten hält!

    Hoffe wir sehen uns in ein paar Monaten nochmal in der Oranienstraße in deinem „Laden“, Konstantin. Hat mich sehr gefreut dich da einmal ein wenig kennengelernt zu haben, während des einen TWC Berlin-Meetups!

    Grüße,
    Johann