5 vor 12 für eine lebenswerte Stadt: Tourismuskonzept 2018+

Tourismuskonzept und Silicon Görli: das Ende der Stadtpolitik?

Der rot-rot-grüne Berliner Senat hat ein Tourismuskonzept vorgelegt und das ist grundsätzlich mal nichts Schlechtes. Nach Jahren des ungebremsten, oder vielmehr nach Kräften gepushten Wucherns der Tourismusinfrastruktur, der von den Entscheidungsträger*innen gefeierten Explosion jährlich Rekorde brechender Besucherzahlen und der mit all dem verbundenen, völligen Umgestaltung ganzer Stadtviertel, wird wenigstens „mal was gemacht“. Jahrelang wurden gewachsene Nahversorgung und selbst Wohnungen umgebaut und umgenutzt, um dem von Oben nach Kräften beförderten Hype um steigende Übernachtungszahlen den Raum zu liefern. Jahrelang schon fliehen Innenstadtbewohner*innen in die Außenbezirke, weil sie die auch vom Berlin-Marketing und „temporären touristischen Wohnformen“ (=Airbnb) nach oben getriebenen Mieten nicht mehr bezahlen können oder schlicht nicht in einem totalvermarkteten Berlin-Disneyland leben wollen. Und jetzt soll es neben der Zweckentfremdungsverordnung und nach Jahren unfreiwillig komischer Ansätze symbolischer Politik (Pantomime zur Ballermann-Befriedung) wenigstens mal ein stadtweites „Hotelkonzept“, irgendwas mit Partizipation und eine „Steuerung“ der Menschenmassen geben. Toll.

Um eines vorweg zu nehmen – hier geht es nicht um ein Grünen-Bashing. Die Partei macht in Berlin stadtentwicklungspolitisch vieles richtig. Die Baustadträte von Kreuzberg und Neukölln haben einen Paradigmenwechsel vollzogen, indem der bauplanungsrechtliche Milieuschutz forciert, das kommunale Vorkaufsrecht genutzt und in manch anderer Hinsicht eine gemeinwohlorientierte Entwicklung von Grundstücken im Eigentum der Kommune angegangen wird. Das ist mehr als nur respektabel.

Was die nicht weniger wichtige Frage der Planung und nachhaltigen Entwicklung von Gewerbe und Nahversorgungsinfrastruktur angeht, gibt es bei den Funktionsträger*innen der Partei aber auch in den Bezirken gewaltige blinde Flecken – und was gerade unter der Ressortverantwortung der grünen Wirtschaftssenatorin Ramona Pop passiert, ist einfach nur haarsträubend: Einmal werden freudestrahlend Pläne verkündet, Hubs und x-tausende Co-Working Spaces für potenziell prekär bezahlte Neuberliner mitten in dicht bewohnte Innenstadtbezirke zu pflanzen. Endlich können Google, Siemens, Zalando und andere Protagonisten der globalisierten Wirtschaft den Sexappeal der Stadt also in Shareholder-Value umwandeln. Dass die Künstler*innen, Kreativen und Selbständigen, die noch vor wenigen Jahren die “Pioniere“ der Stadtentwicklung vor Ort in den Kiezen ausmachten, durch solche Strukturen verdrängt werden, ist da kein ThemaBerlin bekommt sein Silicon Valley – genauer: sein Silicon Görli und da kann man schon in Kauf nehmen, dass haufenweise Berliner*innen ihre Gewerberäume, Arbeitsplätze und potentiell auch ihre Wohnungen verlieren und ganze Wohngebiete in Kreuzberg, Treptow, Neukölln und anderswo umgepflügt werden. Wachstum rules, auch wenn die Stadt aus allen Nähten platzt. Digitalisierung ist irgendwie ja progressiv, warum sollte das also nicht in die Agenda einer grünen Wirtschaftssenatorin passen (Politik für Großkonzerne und „Grüne“ harmonieren ja auch im Süden der Republik prächtig?).

Und nun wird also „moderates Wachstum“ für einen „nachhaltigen“ Berlintourismus in einem neuen Konzept festgeschrieben. Wer die dort gefeierte Verdopplung der Übernachtungszahlen in den letzten 10 Jahren erlebt und die zerstörerische Kraft dieser Form der Verwertung städtischen Raums erfahren hat, dem können sich beim Gedanken an Wachstum allerdings nur die Nackenhaare aufstellen.

Vom Bürger zum Konsumenten

Es lohnt sich, Tourismus-Konzept und die Ansiedlungspolitik des Senats für die wirtschaftlichen Akteure von Smart City, Industrie 4.0 und Plattformkapitalismus zusammen zu betrachten. Beides zeigt eindrücklich, wie der Senat die kommerzielle Verwertung städtischen Raums vorantreibt und welch marginale Rolle die Interessen und Bedürfnisse der Stadtbewohner*innen demgegenüber spielen. In einer bemerkenswerten argumentativen Volte wandelt das Konzept diese dementsprechend von Bürger*innen, also politischen Subjekten, zu “Stakeholdern“ umdie nur noch durch ihr Konsumverhalten definiert werden. Politik, die Aushandlung der Bedürfnisse, Rechte und Pflichten aller Beteiligten, mutiert so zu allein an Effizienzsteigerungen orientierter „Governance“. Berliner*innen sind dem Konzept nach nämlich selbst „Quasi-Touristen“ (S. 21 f.), weil sie ja auch ihre Freizeit in der Stadt verbringen. Und überhaupt: was beschweren sich die Leute über einen Städtetourismus, der Ihnen Erbrochenes vor der Haustür und die Fressmeile statt der Nahversorgung im Kiez beschert – sie nutzen doch auch die Angebote in der Stadt, wollen „Lebens- und Erlebnisqualität“ steigern. Man ist also nicht mehr Bürger*in sondern „Nutzerin oder Nutzer“, Konsument*in.

Dass „new urban tourists“ (S. 21), die Kosmopolitismus so verstehen, dass sie ihren cold brew coffee jedes Wochenende in einem anderen, gerade angesagten Kiez irgendeiner europäischen Großstadt schlürfen können, im Anspruch, als Maßstab städtischer Politik zu gelten, nicht mehr von den langjährigen Einwohner*innen unterschieden werden, ist da nur folgerichtig: „In einer modernen Gesellschaft kann zwischen Bewohnern und Besuchern nicht mehr eindeutig unterschieden werden“ (S. 22). Sicher, ein „temporäres, wohlwollendes Zusammenleben aller Nutzerinnen und Nutzer“, das klingt irgendwie weltoffen und nett. Berliner*innen leben aber auch in Berlin, wenn es Winter wird und der Urlaub vorbei ist, um hier z.B. zu arbeiten, zu studieren, ein Leben zu führen, um Kinder groß zu ziehen und sich, neben dem üblichen Alltagsgeschäft und seinen Existenzängsten, mit steigenden Mieten, Verdrängung und der gnadenlosen Vermarktung ihrer Nachbarschaften herumzuschlagen – wird man all das auch mit den Besucher*innen teilen können, die in der überwiegenden Zahl nur für ein Wochenende in die Stadt kommen um es sich mal so richtig gut gehen zu lassen?

Im Tourismus-Konzept wird städtischer Raum nicht mehr als Zuhause betrachtet, also als Lebenswelt, zu der eine vielleicht über Jahre gewachsene Beziehung besteht, in die sich die Bewohner*innen einbringen, Netzwerke knüpfen, gemeinsamen Raum gestalten. Nein, Berlin ist nunmehr eine „Marke“ (S.36f.), ein möglichst qualitativ hochwertiger „Erlebnisraum“, den man, ob Bewohner*in oder Besucher*in, „temporär“ konsumiert, den man sich dann aber eben auch leisten können muss. Die Idee, dass es Nutzungskonflikte geben könnte, die politische Prioritäten und Entscheidungen (vielleicht sogar zulasten wirtschaftlicher Interessen) erfordern würden, kommt den Autor*innen des Konzepts da offenbar ganz und gar fernliegend vor.

Die Umdefinition der Bürger*in zur Konsument*in und die Absage an eine Politik, die eben die grundlegenden Bedürfnisse, Rechte und Pflichten der Menschen ins Zentrum stellt, passt auch zu dem Bild von Partizipation, das das Konzept zeichnet: Partizipieren sollen die Bürger*innen, um neue Potenziale auch im letzten noch unberührten Winkel der Stadt für die Verwertung durch Tourismus zu erschließen und um Konflikte zu vermeiden (S. 27 f.). Partizipation ist also nicht etwa ein Recht der Bewohner*innen der Stadt, bei den Weichenstellungen für die touristische Infrastruktur ein Wörtchen mitzureden, sondern vielmehr ein Mittel, um neue Märkte zu erschließen und „Akzeptanz zu steigern“ (S. 33). Anderenfalls könnten die Leute ja unfreundlich werden oder gegenüber den Besucher*innen verschlossen erscheinen und sich nicht mehr (man lese und staune) „als Multiplikatoren und Imageträger der Stadt begreifen“ (S. 33). Und sowas würde natürlich dem einen oder der anderen Hotelunternehmer*in das bisher bombige Geschäft vermiesen.

Datenbasierte „Steuerung“ statt an Bedürfnissen der Bewohner orientierte Politik

Interessanterweise ist das Tourismus-Konzept aber auch ein gutes Beispiel dafür, wie und wozu der Senat den Segen der Digitalisierung nutzen will, und welche Auffassung von Stadtpolitik der „Smart-City“- Strategie aus Pops Ressort offenbar zugrunde liegt. Die Senatorin scheint ein Modell städtischer „Steuerung“ im Blick zu haben, das gleich die öffentlichen Aufträge für Google und die Apologeten der privatisierten „Smart City“ mitdenkt. Es ist sicherlich ein (allerdings vielsagender) Zufall, dass das „vollständig digitalisierte und online buchbare Angebot (von der Unterkunft über die Gastronomie, Stadtführung bis hin zum Theaterbesuch)“ (S. 30), das vom Tourismuskonzept als unverzichtbar für den Wettbewerb um den nächsten Übernachtungsrekord erklärt wird, nur allzu gut zu den Expansionsplänen von Airbnb zum – eben all solche Leistungen beinhaltenden – „vollwertigen Tourismuskonzern“ passt.1

Die Idee, dass das enorme Wachstum der Übernachtungszahlen als solches ein Problem sein könnte, wird von dem Konzept natürlich nicht ernsthaft in Erwägung gezogen. Dass es für dieses Wachstum irgendwo Grenzen geben könnte, scheint Pop, obwohl Mitglied einer Ökopartei, mit dem Blick auf städtische Ökosysteme nicht auf dem Schirm zu haben: Verkehr (und dessen ökologische Effekte), der Druck auf den städtischen Raum und seine Bewohner*innen, der die Leute in Barcelona oder auf den Balearen schon zu Aufständen treibt – all das erscheint lösbar und mit einem weiteren Anstieg der Besucherzahlen und den besten Wachstumsaussichten für die Stadtraumverwerter*innen vereinbar. Kein*e Gastronom*in, kein*e Immobilieneigentümer*in muss also auf glänzende Renditeaussichten verzichten, kein Mega-Hostel muss geschlossen, kein Massenevent verlegt, keine Baugenehmigung für die nächste Umnutzung versagt werden: Smarte, datengetriebene „Steuerung“ macht’s möglich. Das Konzept spiegelt ein Verständnis von „smarter“ Stadtpolitik wider, das unmittelbar von Google, Amazon oder Airbnb stammen könnte. Politische Prioritäten, die Berücksichtigung der Rechte der Bewohner*innen gerade auch entgegen wirtschaftlicher Verwertungsbestrebungen, kurz: intentionales, verantwortliches Handeln der Behörden und Entscheidungsträger*innen in der Stadt braucht es da eigentlich nicht mehr, weil sich alle Zielkonflikte und Interessengegensätze mit den richtigen technischen Lösungen quasi-organisch auflösen lassen. Statt Politik ist nach diesem neuen Paradigma datengetriebene „Steuerung“ angesagt: Sensoren in der Stadt und in den Smartphones oder sonstigen mobilen Geräten der Bürger*innen und Tourist*innen liefern die Daten, die dann von leistungsfähigen Algorithmen dazu genutzt werden, um die optimale Steuerung von Verkehrsleitung und Mobilitätsangeboten sicherzustellen und die sogar erreichen sollen, dass die Besucher*innen, wenn es an einem Ort zu voll ist, durch freundliches „nudging“ zu einem anderen „gelenkt“ werden (S. 31). Bewegungsdaten, die Sternchen, die Tourist*innen in ihren Reiseapps verteilen oder eben die Konsumentscheidungen, die Leute treffen (vielleicht auch hier und da eine App zur „Partizipation“…?) füttern den Algorithmus, der sagt, wo es lang geht. Was vormalig die Verwaltung übernehmen sollte, macht jetzt die richtige Applikation. Ordnungspolitik, Recht und eine Verwaltung, die für ihre Entscheidungen geradesteht, spielen in diesem Denken bestenfalls noch eine Nebenrolle.

Politik ist aber kein System, dessen legitimer Output durch den richtigen Input an Daten gesichert wird – gerade im städtischen Raum geht es um Fragen der Verteilungsgerechtigkeit, um Externalitäten und vor allem auch um existenzielle Bedürfnisse.

 Wir fordern eine Stadtentwicklungs- und Tourismuspolitik, die solche grundlegenden Ansprüche anerkennt und Position ergreift, statt Wachstum zu moderieren (und mit allerlei Nachhaltigkeitsrhetorik zu verkaufen). Für ein wirklich nachhaltiges Tourismuskonzept müsste das z.B. konkret bedeuten, dass die unter der Eventisierung Berlins unverhältnismäßig leidenden Innenstadtbezirke zukünftig nicht weiter mit Hotels und Hostels bepflastert werden. Eine Kommune muss nicht immer weiter Hotelbauten genehmigen. Es würde auch bedeuten, dass entschlossen gegen Zweckentfremdungen von Wohnraum über Plattformen wie Airbnb vorgegangen und die rasant fortschreitende Umnutzung des sozialen oder nahversorgenden Gewerbes in Tourismusinfrastruktur verhindert wird. Und zwar wenigstens mit den Mitteln, die das Bauplanungsrecht schon längst zur Verfügung stellt. Und schließlich muss eine Ansiedlungspolitik, die die letzten Reste der für die Innenstadtbezirke ehemals so typischen Mischung der Gewerbe zugunsten kurzlebiger Start-ups opfert, aufhören.

Dass eine ungemindert weitergehende Kommerzialisierung und Homogenisierung der Gewerbestruktur der Kieze durch den Tourismus dessen eigene Grundlagen (die „vielfältige Kiezkultur“) zerstört, hält das Konzept immerhin fest. (S.35 f.) Das wird sich aber weder durch verbesserte Straßenreinigung oder Lärmschutzmaßnahmen, durch die Einführung alternativtouristischer Nischenthemen (Fahrradtourismus, Wassertourismus) oder den Einsatz von digitalen Tools zur Effizienzsteigerung erreichen lassen. Mit Sicherheit ist ein „nachhaltiger Tourismus“ nicht mit einem weiteren, auch „moderaten Wachstum“ vereinbar. In den Kiezen ist es mindestens 5 vor 12 – wir brauchen endlich einen entschiedenen Schutz dessen, was von der „lebenswerten Stadt“ noch übrig ist.

Fußnoten und Anmerkungen

1 s. BILANZ 07/2017, S. 52 ff

Die Seitenzahlen, die im Text in Klammern gesetzt erscheinen, beziehen sich auf das Tourismuskonzept 2018+, das hier als PDF heruntergeladen werden kann.