Was passiert in Kreuzberg 36?
Der folgende Text ist eine leicht überarbeitete Version eines älteren Blogeintrags, der als Redebeitrag auf der Abschlusskundgebung der Kiez-Demonstration vom 25.2.2017 gehalten wurde.
Im Wrangelkiez wird der Laden für Restposten „Bantelmann Betriebe Berlin“ aus der Wrangelstraße 86 verdrängt. Der Laden verkauft Haushaltsgegenstände für wenig Geld und existiert seit über 40 Jahren. Der Protest gegen die Kündigung zeigt bereits Wirkung, aber die ersten Signale der Eigentümer Richtung Verhandlungen haben den Ladenbetreibern noch keine langfristige Sicherheit für ihre Existenz gebracht. Das Café Filou in der Reichenberger Straße 86 ist zum 31.7. gekündigt. Es existiert seit 20 Jahren und ist die einzige Kiez-Bäckerei im Umfeld der Kreuzung Glogauerstraße / Reichenberger Straße. Dort hat sich die Nachbarschaft zur Kiez-Initiative „GloReiche“ zusammengeschlossen, und trägt den Protest gegen die Eigentümer. Die Gewerbehöfe in der Lausitzer Straße 10+11 sollten verkauft und in Luxuswohnungen umgewandelt werden. Selbstorganisierung der Mieter.innen zur Initiative „Lause Bleibt“ und der Druck auf den Eigentümer haben diesen immerhin zur Ankündigung eines vorläufigen Verkaufstopps gedrängt. In der Lausitzer Straße sitzen noch viele Kleingewerbe, Medien- und Kulturinitiativen, aber auch Vereine, die für das politische Kreuzberg stehen wie z.B. das antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum, das Umbruch Bildarchiv und der Verein Leftvision. Von allen sollten die Mietverträge nicht verlängert werden, und trotz Verkaufsstopp ist diese Gefahr noch nicht endgültig abgewendet. In der Oranienstraße wurde der Mietvertrag der Buchhandlung Kisch & Co nicht verlängert, sie müssen Ende Mai raus. In der Cuvrytsrasse 10 soll der kleine Laden für Kleidung „Vintage Stuff“ gehen. Google plant einen Campus für Start-Ups im Umspannwerk an der Ohlauer Straße, und auf der Cuvrybrache ist bereits der Weg frei zum Bau der „Neuen Spreespeicher“, einem Komplex, der ausschließlich Büroräume und ein Luxushotel beherbergen wird.
Abseits von diesen spektakulären Fällen, die durch organisierte und politische Nachbar.innen begleitet werden, schreitet die stille Verdrängung weiter voran. Menschen werden aktiv entmietet oder ziehen aus, weil sie sich die Miete nicht mehr leisten können: in der Manteuffelstraße 85 stehen bis auf drei alte Mietparteien alle Wohnungen leer und werden gerade saniert. Der Profit mit der Vermietung an Touristen geht trotz Zweckentfremdungsverbot weiter: In der Eisenbahnstraße werden über den Umweg des “Wohnen auf Zeit” weiter Ferienwohnungen betrieben. Im Graefekiez, einst das erste Milieuschutzgebiet Berlins, schreitet die Touristifizierung weiter voran und verdrängt Altmieter.innen, die es nicht aushalten an einem „Berliner Ballermann“ zu wohnen. Trotz Blockade-Mobilisierungen finden viele Zwangsräumungen weiterhin von der Öffentlichkeit unbemerkt statt.
Angesichts all dieser Katastrophen stellt sich die Frage: BLEIBEN WIR KREUZBERG?
Dieser Kiez hat Geschichte. Einst an drei Stellen von der Mauer umschlossen, voller heruntergekommener Häuser, von denen viele in den 80ern instandbesetzt wurden, hat sich hier im Verlauf eines halben Jahrhunderts ein einzigartiges soziales Milieu entwickelt. In Kreuzberg haben nicht nur türkische Einwanderer.innen eine Heimat gefunden, sondern auch Punks, schlechtbezahlte Künstler.innen, linke Akademiker.innen aus dem Westen und ein wichtiger Abschnitt der deutschen Hiphop-Szene. Hier gibt es noch Häuser, in denen sich Nachbar.innen per Whatsapp schreiben, dass bitte der Bass aus dem Techno gedreht werden soll, statt die Polizei zu rufen. Vor unseren Haustüren und Erkern hat sich 2012 das kurze Kapitel der Geflüchtetenproteste in Berlin abgespielt. Die Refugees konnten den Oranienplatz besetzt halten, weil hier ein anderer Wind weht, alternative Lebensstile und Gedanken realisierbar sind und die Nazis den Kiez zurecht meiden. Aus demselben Gund konnte im selben Jahr am südlichen Kottbusser Tor ein Protest-Gecekondu errichtet werden, das immer noch steht. In Kreuzberg 36 kamen 2013 hunderte von Nachbar.innen zusammen, um die Zwangsräumung von Ali Gülbol zu verhindern, und 2014 noch mal hunderte um die drohende Räumung der Gerhard-Hauptmann-Schule nicht unwidersprochen zu lassen. Ist das jetzt das langsame Ende? Oder schaffen wir es wieder zur nachbarschaftlichen Solidarität zusammen zu kommen – und diesmal zu bleiben – um uns in die laufende Geschichte einzumischen?
Die ersten Schritte dafür sind einfach und direkt: Klingelt bei euren Nachbar.innen. Redet über die Höhe eurer Miete, tauscht euch über Betriebskostenabrechnungen aus, fragt nach dem Verhalten der Hausverwaltung zu Mängelangaben und sonstigen Kontaktaufnahmen. Diskutiert über euer Haus und eure Straße: wie lebt es sich in eurem Zuhause? Seid ihr zufrieden mit eurem Kiez? Gibt es Konflikte? Wird jemand verdrängt? Wer braucht welche Hilfe? Redet über eure Sorgen und Ängste, aber auch über eure Hoffnungen und Wünsche. Überlegt, wie ihr sie umsetzen könnt. Schließt euch zusammen, werdet aktiv und bleibt dran. Kiez-Initiativen wie Zwangsräumung Verhindern, Bizim Kiez, GloReiche und Lause Bleibt stehen euch mit Rat und Tat zur Seite – und wir sind nicht die einzigen. Vernetzt euch, organisiert euch, seid solidarisch miteinander, und seid politisch.
In Neukölln ist eine Kiezversammlung, die durch die akut räumungsbedrohte Friedel 54 ins Leben gerufen wurde, dabei, die Solidarität der Nachbarschaft politisch zu bündeln, und in Friedrichshain-Nordkiez ist mit Frank Henkel der erste Politiker über die geballte Solidarität einer versammelten Nachbarschaft mit der Rigaer 94 gestolpert.
Was passiert in Kreuzberg 36?