Bizimness statt Business

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Protest, der verbindet: Halay-tanzende Kiezbewohner_innen in Kreuzberg.

In Berlin-Kreuzberg wehren sich Nachbar_innen kollektiv  gegen die profitorientierte Zurichtung ihres Kiezes

Die Kündigung von »Bizim Bakkal«  traf ins Herz.

Von Kathrin, Katrin,
Philipp und Thomas

Mittwochabend, 17. Juni im Wrangelkiez in Berlin- Kreuzberg.

Vor den Obst- und Gemüseladen mit dem gelben Schild und dem grünen Schriftzug »Bizim Bakkal « (deutsch: Unser Laden) werden Biertische aus dem Nachbarschaftszentrum geschleppt. 800 Menschen strömen auf der Straße zusammen und füllen die Tafel mit Kisir, Brot, Dipps und Obst. Picknickdecken sind auf dem Asphalt ausgebreitet, eine Band spielt. Kinder drängen sich am Siebdruckstand und produzieren unablässig neue Banner. Die Losung »Bizim Kiez. Für den Erhalt der Nachbarschaft im Wrangelkiez« ziert als Sticker Räder sowie Autos und hängt aus vielen Fenstern. Auf Plakaten steht »Wir sind diese Straße « und »Nicht Euer Casino«. Ein großes Transparent überspannt die ganze Straße: »Bizim Bakkal bleibt – wir auch. Keine Verdrängung im Wrangelkiez.«

Proteste gegen Gentrifizierung und Mieterorganisierung sind nicht neu, doch was gerade im Wrangelkiez geschieht, da sind sich alle einig, ist »irgendwie anders «. Dem Gemüseladen Bizim Bakkal war durch den neuen Eigentümer gekündigt worden. Der will das Haus luxussanieren und in Eigentumswohnungen umwandeln. Soweit bittere Normalität in Kreuzberg. Doch hier ist urplötzlich eine Gegenbewegung entstanden. Deren Säulen bilden die seit bald vier Monaten stattfindenden Mittwochsversammlungen auf der Straße, eine Arbeitsgruppenstruktur von rund 80 Aktiven und eine mit professionellem Know-how aufgezogene Socialmedia-Mobilisierung. Die Erfolge: Der Eigentümer zog die Kündigung von Bizim Bakkal aufgrund des öffentlichen Drucks und angesichts des internationalen Medienechos zurück. Andere bedrohte Kleingewerbe im Kiez können über Vertragsverlängerungen verhandeln, jeder neue Fall von versuchter Verdrängung wird öffentlich, darauf ist nun Verlass. Aus »Bizim Bakkal bleibt« ist ein selbstbewusstes »Bizim Kiez« geworden: »Das ist unser Kiez«.

Niemand hatte damit gerechnet, dass mehr als zwei Dutzend Nachbar_innen Ende Mai der eilig kopierten Einladung zu einem ersten Treffen folgen würden. Es kamen Hundert – eine Spontandemonstration. Woher diese überraschende Resonanz? Und wie konnte es gelingen, eine kontinuierliche Zusammenarbeit aufzubauen, in der sich alle rasch darüber einig waren, dass der Gemüseladen als Beispiel steht und mit ihm die profitorientierte Zurichtung der Städte ins Visier genommen werden muss?

Da ist, neben der allgegenwärtigen Angst, selbst zum nächsten Verdrängungs- »Fall« zu werden, die vielbeschworene Wut. Offenbar war das Maß voll, die Kündigung von Bizim Bakkal traf ins Herz. Bizim Bakkal wurde 1987 von Ahmet  Çalışkan und seinem Vater, einem ehemaligen Gastarbeiter, eröffnet. Der auf Twitter augenzwinkernd zum »Robbenbaby der Gentrifizierung« gekürte Gemüseladen mit seinem beliebten Betreiber ist nicht nur ein wichtiger Teil der Infrastruktur, sondern auch ein Stück Kiezkultur. Darüber hinaus ist er auch ein Symbol für migrantische Geschichte – und seine Kündigung eines dafür, dass Verdrängung aus den Westberliner Innenstadtbezirken zuvörderst jene trifft, die ihnen das Leben erst eingehaucht haben, das unter dem Label »multikulturell und weltoffen « heute von Berlin vermarket und von Immobilienfirmen verwertet wird. Dass ein »Investor« nun mit einem Schlag das Lebenswerk zweier Generationen – und die Zukunftsperspektive einer weiteren – zerstören könnte, verletzt das Gerechtigkeitsempfinden und wird als »Enteignung « skandalisiert.

Das ruft auch Nachbar_innen auf den Plan, die sich von traditionellen Politikformen kaum angesprochen fühlen. Die lange schwelende Empörung über rasante Mietsteigerungen und Umwandlung in Eigentum, aber auch die Ausrichtung des Gewerbes am touristischen Hype findet in den Mittwochsversammlungen ein Forum. Verbindend wirkt dabei zunächst der Wunsch nach dem Erhalt der Kiezstrukturen, und damit des »Konzepts « Kiez – immer schon verstanden als sozial divers, während im Gegenzug die Auf- und Verwertung von Immobilien die Stadt nach Einkommen sortiert. Offensiv gewendet ist damit die Frage auf dem Tisch, wie ein solidarisches Miteinander gelebt werden kann, inwiefern eine der Verwertungslogik unterworfene Organisation von Wohnen, von Stadt, von Gesellschaft dem entgegensteht und wie in einer unorthodoxen Selbstorganisierung eine Art Gegenmacht aufgebaut werden kann.

Die Vereinzelung ist durchbrochen

Bizim Kiez bietet derzeit eine offene Plattform für kreative Beteiligungsideen. Peu à peu werden sie sichtbar: die vielen im Kiez lebenden Kulturschaffenden, die von Kampagnenhuberei frustrierten linken Aktivist_innen, die von klassischer politischer Gremienarbeit Ernüchterten und die bekennenden schrägen Vögel ? und nicht zuletzt jene, die Vereinsklüngelei, Vereinnahmung, Parolenhaftem und Plattitüden gegenüber misstrauisch (geworden) sind. Auch kann hier die in jüngerer Zeit zugezogene akademische Mittelschicht ihr Unbehagen über die eigene relative (durchaus prekäre) Privilegierung in praktische Solidarität überführen. Mittwochs erzählen Nachbar_innen ihre Kiezgeschichten und berichten am offenen Mikro von ihren Erfahrungen mit Vermieter_innen. Singer-Songwriter – nicht selten der Gentrifizierung andernorts entflohen –, Beatboxer und türkische Musikgruppen wechseln sich ab mit Lesungen aus Romanen oder des Literaturprojekts »Daughters and Sons of Gastarbeiters «. Der Film »Mietrebellen« wird gezeigt, in einer Theaterperformance das Tauziehen um den Kiez nachgestellt oder mit Stadtsoziolog_innen diskutiert. Seit der ersten Versammlung folgen Aufrufe, sich zu den offenen Sitzungen der Arbeitsgruppen in den anliegenden Läden oder Cafés einzufinden.

Diese Niedrigschwelligkeit macht den Einstieg leicht. Die AGs recherchieren und dokumentieren Fälle von Verdrängung von Mieter_innen und Kleingewerbe und loten gemeinsam mit Betroffenen Widerstandmöglichkeiten aus. Eine Online-Petition und Anfragen an die Bezirksverordnetenversammlung entstehen aus dieser Arbeitsweise ebenso wie eine Lärmdemo in Kooperation mit Initiativen aus dem Nachbarkiez. Auf der Basis von Freiwilligkeit sind die individuellen Fähigkeiten aller willkommen. Das Corporate Design, die erfolgreiche PR, die »Karte der Verdrängung « auf der Homepage, die Soli- Sause »Bizim Beatz« oder das Bizim Fußballteam sind Ausdruck dieser Offenheit: Das jeweilige Tun wird angenommen, so stellt sich wechselseitiges Vertrauen her. Das Handeln, das Machen, was und weil es einem gefällt – ohne quälende Diskussion – setzt (kollektive) Energie frei. Konflikte werden konstruktiv zu lösen versucht, in den Debatten um sie entwickeln sich die basisdemokratischen Strukturen weiter.

Zu später Stunde wird auf der Straße auch mal Halay getanzt. Kiez-Urgesteine, zugezogene Kreativprekarier, türkische Altlinke, enttäuschte Grünen-Wähler_innen und aufgeschlossene Anarchist_innen tauschen sich beim Späti-Bier nicht nur über Investorenstrategien aus, sondern streiten auch über den Begriff »kartoffeldeutsch«, Mehrheits- vs. Konsensentscheidungen, den Umgang mit Berufspolitiker_innen oder das Racial Profiling der Polizei bei Drogenkontrollen im angrenzenden Görlitzer Park. Das zeugt von einer Bereitschaft, sich auf die Verschiedenheit, auf unterschiedliche Erfahrungen und auch politische Positionen einzulassen, nicht das Trennende, sondern das Gemeinsame zu suchen.

Die Vereinzelung ist durchbrochen, der Resignation mit »Bizimness« die Lebendigkeit entgegengestellt. Diese wird allwöchentlich durchaus fotogen in Szene gesetzt und medial dankbar aufgegriffen. Sie entfaltet ihre Strahlkraft aber vor allem im Alltag: Wer jahre-, ja jahrzehntelang bloß aneinander vorbeiging, grüßt sich heute, Gesichter bekommen Namen und immer häufiger auch eine Geschichte. Es ist dieses veränderte Lebensgefühl im Kiez, das in seiner Sogwirkung auch die Skeptischen einnimmt und vielen die Kraft gibt, manchmal auch jenseits der Belastungsgrenzen aktiv zu bleiben. Das gemeinsame Überraschtsein und auch emotionale Angerührtsein ob der eigenen Stärke in der Vielfalt ist momentan wohl der größte Trumpf.

Die Mittwochsversammlungen schaffen einen Ort für Begegnung und für eine Neuentdeckung des Politischen, wie wir sie in der Krise von den Platzbesetzungen der globalen Bewegungen kennen – indes ohne den Verschleiß, den eine dauerhafte Präsenz mit sich bringt. Zugleich wurden auch hier Grenzen spürbar: Befeuert vom Medienecho geriet man unter den Druck, ein immer besseres Programm anbieten zu wollen, um auch die Presse bei der Stange zu halten. Damit drohte zugleich eine Beschneidung des Raums für Dialog und entwickelte sich die Gefahr einer Trennung in Macher_innen und bloße Teilnehmende. Arbeitshierarchien entstanden und nicht Wenige sind nach all den Wochen an ihre Kapazitätsgrenzen gelangt. Zwar tritt Bizim Kiez bislang milieu- und altersübergreifend auf, doch sind Ressourcen zur Beteiligung ungleich verteilt und z.B. türkische Nachbar_innen in den AGs unterrepräsentiert. Möchte man nicht zum Feel-good-Kiez mutieren, dessen Bild von den Vorstellungen hochtourig Engagierter geprägt wird, sondern eine selbstorganisierte und tragfähige Nachbarschaftsbewegung sein, muss man Formen finden, die allen eine kontinuierliche Mitwirkung erlauben und die nicht die Außenresonanz als zentrales Maß für solidarisches Vorwärtskommen etablieren. Wichtig wird sein, die Balance der Säulen bzw. Logiken ? online/offline, strategisch/ alltäglich, effizient/kreativ ? auch künftig zu wahren.

Bizim Kiez könnte ein Labor für basisdemokratische Stadtteilbewegungen werden oder ist es bereits. Dafür braucht es weiterhin so konkrete Projekte wie den Kampf um den Gemüseladen. Einigen ist Bizim Kiez zu zahm – noch wurde auf das klassische Aktionsrepertoire des zivilen Ungehorsams nicht zurückgegriffen. Aber die bisherigen Teilerfolge sind fragil, die weitere Entwicklung offen. In einem sind sich alle einig: In diesem Sommer ist etwas entstanden, das uns niemand wegnehmen kann. Und auch wenn es früher dunkel wird: Bei jedem neuen »Fall« sind alle wieder auf der Straße.

Kathrin, Katrin, Philipp und Thomas
sind in Arbeitsgruppen bei Bizim Kiez aktiv
(www.bizim-kiez.de).

Erschienen in: ak | Nr. 608 | 15. September 2015 – bewegung
Originalartikel hier:  1509_AK_HP_19