Die Unwirtlichkeit unserer Städte

Oft kann Geschichte unangenehm bedrückend daherkommen. Damit sind nicht nur die eigentlichen Fakten der Geschehnisse gemeint, sondern auch das Reflektieren dieser. Mensch fragt sich dann oft zu Recht was wir denn eigentlich u.a. mit  „Zukunft“  und „Planungen“ meinen könnten, wenn doch immer wieder auf sehr nüchterne Art erkannt werden muss, dass sich oftmals selbst über Jahrzehnte Grundsätzliches im menschlichen Bewusstsein nur wenig verändert hat.  Bereits im September des Jahres 1965 ist im Magazin „Der Spiegel“ folgende reklamierende Überlegung zu lesen:

»Bekümmert über die Egalisierung der Stadtbilder, die Vormacht von Eigennutz und Eigensinn über einst gültige stadtbürgerliche Obligationen, den Kanon des Kollektivs, schockiert durch die Vororte und ihre Baugreuel, die „Einfamilienweiden“ wie die Massenquartiere, empört über die Bodenspekulation und die Landzerstörungen, die der Stadtverwüstung durch Bomben und Wiederaufbau gefolgt sind, spricht der Autor doch für die Stadt, den „einzigartigen Ort der menschlichen Bewußtseinsentwicklung“. Er rühmt die „Stadtfestigkeit“ ihrer Bewohner, bejaht die Großstadt als unausweichliche Gegebenheit, als Schmelztiegel der Zeit und fordert für ihre sinnvolle, menschenwürdige Entwicklung „nur etwas Mut zur Einsicht“, Nachdenken und Umdenken, schließlich umstürzende Konsequenzen aus den Wandlungen im gesamtgesellschaftlichen Prozeß. «

Der Artikel im Spiegel vom 15.09.1965


Alexander Mitscherlich – Psychoanalytiker und Stadtkritiker
Die Unwirtlichkeit unserer Städte, Suhrkamp 2008

 

 

 

 

 

 

 

 

»Mitscherlich bereitete gerade sein Buch „Die Unwirtlichkeit unserer Städte“ vor, mit dem sich der Psychoanalytiker auch bei Architekten und Stadtplanern Respekt verschaffte.
Als er sich nun ein Häuschen im Grünen, in sicherer Distanz vom Frankfurter Großstadtgetöse, suchte, kamen ihm plötzlich Selbstzweifel. Offenbar erinnerte er sich daran, dass er seinen Landsleuten mit Sätzen wie diesen ins Gewissen reden wollte:


Das Einfamilienhaus, ein Vorbote des Unheils,
den man immer weiter draußen in der Landschaft antrifft,
ist der Inbegriff städtischer Verantwortungslosigkeit
und der Manifestation des privaten Eigentums.


Mitscherlich kritisierte in „Die Unwirtlichkeit der Städte“ den „irrationalen und keineswegs rationalen Wunsch nach dem Eigenheim“. Und plötzlich wurde ihm bewusst, dass er selbst diesem Wunsch erlegen war. Die Kehrtwende kam schnell: Alexander und Margarete Mitscherlich zogen nicht ins Grüne, sondern nach Frankfurt-Höchst, in ein 19-stöckiges Hochhaus. Noch heute ist man hier stolz auf den 1982 verstorbenen Mitbewohner. Deswegen wurde der Wohnturm im letzten Jahr „komplettsaniert“ und erhielt den Namen „Mitscherlich-Haus“.

Der Frankfurter Psychoanalytiker begab sich in den sechziger Jahren auf ein fachfremdes Gebiet: Er bekämpfte die im Geiste des Funktionalismus errichteten Nachkriegsstädte mit ihren Trabantensiedlungen. Die Auswirkungen der Stadtplanung für eine demokratische Gesellschaft sah er völlig illusionslos«


»Mitscherlich fragt: Was drücken die Neubauten in den westdeutschen Städten aus? Worin beeinflussen sie ihre Bewohner, im Guten wie im Schlechten? Worin liegt die „Herzlosigkeit“, das heißt die Unwirtlichkeit beim Wiederaufbau der zerstörten alten Städte in Deutschland? Welche politischen Konsequenzen müsste man daraus für die Zukunft ziehen? Sein Buch „gehört zur Architektur Deutschlands wie der Häuserkampf zur Studentenrevolte. Schon der Titel dieses Essays, der 1965 erschien und zweihunderttausendmal verkauft wurde, ist genial: Mitscherlich hätte sein Buch auch ‚Die Hässlichkeit unserer Städte‘ nennen können. Doch er wählte das seinerzeit schon antiquierte Wort Unwirtlichkeit und machte damit sofort klar, worum es ging: um die Befindlichkeit der Städter. Wie ein Hotelier gegenüber seinen zahlenden Gästen, so die Assoziation, sind Städtebauer verpflichtet, die Bewohner sich heimisch fühlen zu lassen“ (FAZ). Die Stadtsoziologin Marianne Rodenstein und der Architekt Nikolaus Hirsch stellen in zwei Nachworten Entstehungsbedingung und Wirkung von Alexander Mitscherlichs bahnbrechender Schrift dar. 215 Seiten. Fester Einband. Suhrkamp«