BIZIM KIEZ zur Besetzung und Räumung des Ladens in der Wrangelstraße 77
BIZIM KIEZ fordert unabhängige Untersuchung und Konsequenzen nach der Räumung des ehemaligen Gemüseladens in der Wrangelstraße 77
Berlin/Kreuzberg: Im Zuge des Aktionstages gegen Verdrängung und #Mietenwahnsinn am 6. April, an dem sich bundesweit 55.000 Menschen beteiligten, wurde in der Wrangelstraße 77 in Kreuzberg ein Ladenlokal besetzt. Wir Anwohnerinnen und Anwohner aus der Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez sind schockiert vom folgenden Polizeieinsatz, den wir als brutal und völlig unverhältnismäßig erlebten. Wir weisen die Behauptung von Innensenator Geisel zurück, es habe sich um ein Einbruchsdelikt statt um eine Besetzung gehandelt, und verweisen auf die ungesichert offen stehende Ladentür. Wir verlangen eine unabhängige Untersuchung, Konsequenzen für übergriffige Einsatzkräfte und Verantwortliche, sowie eine „Neue Berliner Linie“ statt Räumungen. Sofortmaßnahmen gegen Zweckentfremdung durch Leerstand wie in der Wrangelstraße 77 sind notwendig.
Ladenlokal Wrangelstraße 77: Bizim Kiez fordert bedarfs- und kiezgerechte Nutzung statt Leerstand
Die Eigentümer lassen das Ladenlokal des ehemaligen Gemüseladens Bizim Bakkal seit der Geschäftsaufgabe von Ahmet Çalışkan am 31.3.2016 leer stehen. Mieter*innen des Hauses berichten zudem vom Leerstand dreier Wohnungen. Die Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez erhebt seit 2016 die Forderung nach einer bedarfs- und kiezgerechten Nutzung des Ladenlokals. Überrascht wurden wir davon, dass dieser Forderung am Samstag mit dem Mittel einer Besetzung und der Eröffnung eines „Kiezladens“ zur Umsetzung verholfen werden sollte.
Polizeieinsatz: Beobachtung von Übergriffen gegenüber Kundgebungsteilnehmenden, Nachbar*innen, Presse und Abgeordneten
Nach Bekanntwerden der Besetzung begaben sich auch bei Bizim Kiez engagierte Nachbar*innen in die Wrangelstraße. Sie berichten von massiven Polizeiübergriffen beim Einsatz rund um die Räumung der Besetzung. Philipp Vergin von Bizim Kiez sagt: „Wir beobachteten, wie behelmte Polizisten ohne Vorwarnung und ersichtlichen Grund von beiden Seiten der Straße auf die Menschen zustürmten, die vor der Hausnummer 77 auf dem Gehweg und der Straße standen. Sie stießen diese mit Gewalt vor sich her und schlugen brutal zu. Dabei wurden zahlreiche Personen über Fahrräder gestoßen und gegen parkende Autos gequetscht. Polizisten traten sogar auf Menschen ein, die auf dem Boden lagen, und verletzten andere durch Faustschläge und den Einsatz von Reizgas. Journalist*innen und Abgeordnete wurden angeschrien, von Polizeibeamten gewaltsam an ihrem Beobachtungsrecht gehindert, gar zu Boden geschubst. Einer Nachbarin, die sich schützend vor die grüne Bundestagsabgeordnete Canan Bayram stellte, wurde von einem äußerst aggressiven Polizisten drei Mal mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Sie trug ein Hämatom davon.“
Bizim Kiez fordert Konsequenzen: „Man musste den Eindruck gewinnen, dass der Polizeiapparat völlig freidreht. Wir erwarten, dass dieser Einsatz lückenlos und unabhängig untersucht wird. Die Polizei muss unverzüglich ihre Behauptungen belegen, wie zum Beispiel jene einer angeblichen Bedrohung eines Beamten mit einem Messer.“
Rechtgrundlage „Einbruchsdelikt“ fragwürdig: Der Laden stand ungesichert offen
Gleiches gilt für die Behauptung eines Einbruchs in den Laden, der laut Aussage von Innensenator Geisel im rbb die Rechtsgrundlage für den Einsatz geliefert hätte: In der Nachbarschaft war vielen bekannt, dass die Tür zum Laden seit Monaten ungesichert offenstand. Auf mehrere uns vorliegende Schreiben eines Mieters, der nach einem Einbruch in seine Wohnung Anfang Dezember 2018 die Eigentümer auf den ungesicherten Laden aufmerksam gemacht und Abhilfe gefordert hatte, wurde nicht reagiert. Unserer Kenntnis nach verschaffte sich am Samstag also einzig die Polizei gewaltsam Zugang zum Laden, als sie – wie beobachtet wurde – sowohl die vordere Ladentür aus den Angeln trat als auch im Hof die Fensterabsperrung zerstörte.
Bizim Kiez fordert: Ermittlungen und Aufarbeitung sowie eine Neue Berliner Linie
Es müssen Ermittlungen gegen die übergriffigen Einsatzkräfte eingeleitet werden sowie eine Aufarbeitung im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses erfolgen. Sollte sich herausstellen, dass der Einsatz nicht nur unverhältnismäßig, sondern auch rechtswidrig erfolgte, müssen die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden. Unabhängig vom Ausgang der Untersuchungen fordern wir eine Neue Berliner Linie statt Amtshilfe für Räumungen: https://neueberlinerlinie.noblogs.org/.
Gegen Zweckentfremdung durch Leerstand: Sofortmaßnahmen notwendig
Des Weiteren müssen unverzüglich konkrete Maßnahmen gegen Zweckentfremdung durch Leerstand umgesetzt werden: Sollten sich die Eigentümer weigern, ihre z.T. jahrelang systematisch aus Spekulationsgründen leerstehenden Räume für Zwischen- oder Dauernutzungen durch insbesondere selbstverwaltete, nicht-kommerzielle Angebote zur Verfügung zu stellen, müssen Bezirk und Senat rechtliche Schritte bis hin zur Beschlagnahmung einleiten. Im Fall des nun wieder leerstehenden ehemaligen Bizim Bakkal fordern wir die Bezirkspolitik auf, mit dem Eigentümer in Verhandlung zu treten.
HINTERGRUND
Zur Rekonstruktion der Ereignisse aus Sicht von bei der Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez aktiven Anwohner*innen
Während der Demonstration gegen Verdrängung und #Mietenwahnsinn wurde bekannt, dass eine Gruppe aus dem #besetzen-Netzwerk das Ladenlokal in der Wrangelstraße 77 besetzt hatte und dort einen Kiezladen einrichten will.
Situation in der Wrangelstraße
Viele Demonstrant*innen, darunter auch Aktive von Bizim Kiez, zogen daraufhin in die Wrangelstraße, um sich selbst ein Bild zu machen und die Besetzung solidarisch zu begleiten. Rasch sperrte jedoch die Polizei die Straße an den Kreuzungen zur Cuvry- und Falckensteinstraße ab. Es war zu beobachten, dass Polizist*innen unter Einsatz von körperlicher Gewalt zu verhindern versuchten, dass Demonstrant*innen sowie Nachbar*innen zum Haus Wrangelstraße 77 und den dort versammelten Unterstützer*innen gelangen konnten.
Laut Augenzeugenberichten hatten sich dort sechs Zivilpolizisten, zum Teil mit Polizeiwesten ausgestattet, bereits kurz nach der Besetzung erfolgreich Zugang zum Laden verschafft, in dem sich drei Besetzer*innen aufhielten. Wegen der vielen Unterstützer*innen vor dem Haus gelang es weiteren Polizist*innen nicht, das Haus zu betreten. Zu diesem Zeitpunkt wirkte die Situation beruhigt. Es waren keinerlei erkennbare Versuche von Demonstrant*innen zu beobachten, in das Haus zu gelangen – geschweige denn, die sich dort befindlichen Zivilpolizist*innen anzugreifen, wie seitens der Polizei behauptet.
Vermittlungsversuche der Abgeordneten und Kontakt mit Innensenator Geisel
Die mittlerweile eingetroffenen Abgeordneten – Canan Bayram (MdB, Grüne), Cansel Kiziltepe (MdB, SPD), Gabi Gottwald, Katina Schubert, Hakan Taş (alle MdA DIE LINKE), Katrin Schmidberger (MdA, Grüne) und Florian Schmidt (Bezirksstadtrat, Grüne) – versuchten, ebenso wie Aktive von Bizim Kiez, sich ein Bild zu machen und zu vermitteln. Wir konnten vor Ort bezeugen, dass mehrere Abgeordnete Telefonate mit Innensenator Geisel (SPD) geführt haben. Dem Vernehmen nach versicherte er, mit der Polizeiführung sprechen und eine Eskalation verhindern zu wollen. Er übernahm jedoch die Darstellung der Polizei, wonach es sich nicht um eine Besetzung, sondern einen Einbruch handeln würde. Dies zu dulden, könne nicht Linie unter Rot-Rot-Grün sein. Außerdem sei die Versammlung vor dem Haus nicht angemeldet.
Als Letzteres per Megaphon durchgesagt wurde, meldeten sich sofort spontan mehrere Personen, um als Anmelder*innen für eine Kundgebung zu fungieren.
Polizeiübergriffe auf der Wrangelstraße
Es folgte gegen 17:00 Uhr eine Durchsage, die Kundgebung vor dem Laden sei nun angemeldet worden. Doch die zahlreichen Demonstrant*innen, die an Absperrungen warteten, wurden nicht zur nun angemeldeten Versammlung durchgelassen. Stattdessen stürmten wenige Minuten nach der Durchsage behelmte Polizeikräfte – ohne Vorwarnung und ersichtlichen Grund – von beiden Seiten der Straße auf die vor dem Haus auf dem Gehweg und auf der Straße Stehenden zu. Sie stießen diese mit Gewalt vor sich her und schlugen zu. Dabei wurden zahlreiche Personen über Fahrräder gestoßen und gegen parkende Autos gequetscht. Polizisten traten auch auf Menschen ein, die auf dem Boden lagen, und verletzten durch Faustschläge und den Einsatz von Reizgas. Auch Journalist*innen und Abgeordnete wurden angeschrien, von den Beamten gewaltsam an ihrem Beobachtungsrecht gehindert, gar zu Boden geschubst. Einer Nachbarin, die sich schützend vor die grüne Bundestagsabgeordnete Canan Bayram stellte, wurde von einem äußerst aggressiven Polizisten drei Mal mit der Faust ins Gesicht geschlagen. Sie erlitt ein Hämatom.
Brutale Festnahme vor dem Familien- und Nachbarschaftszentrums Wrangelkiez
Auch nach der Räumung kam es im Kiez zu weiteren Polizeiübergriffen, Festnahmen und brutalen Szenen. So berichten Nachbar*innen von einem weiteren gewalttätigen Vorgehen von Polizeibeamten bei einer Festnahme gegen 18:30 Uhr, im Fußgängerdurchgang zwischen Cuvry- und Falckensteinstraße. Der Vorfall fand direkt neben dem Garten des Familien- und Nachbarschaftszentrums Wrangelkiez statt, in dem sich an diesem Nachmittag auch Familien mit Kindern aufhielten. Dessen Leiterin Esther Borkam beobachtete: „Ein junger Mann wurde bei einer brutalen Festnahme von einer Gruppe von etwa acht bis zehn Polizisten zu Boden geworfen, von Beamten auf ihm sitzend »fixiert« und mit Handschellen gefesselt. Sein Gesicht wurde von einem Beamten mit dem Knie auf den Boden gedrückt. Trotz offensichtlicher Schmerzen des Betroffenen und Empörung der umstehenden Passanten, ließen die Polizisten nicht von ihm ab. Sie bildeten einen Kreis um ihn und führten den mittlerweile blutenden Mann ab. Auf Nachfrage, weshalb der junge Mann festgenommen worden sei, antwortete der angesprochene Beamte: »Wegen Beleidigung«.“
Pressestimmen zum Thema:
- Junge Welt, 11.4.2019: KAMPF UMS WOHNEN, »Wohnraum darf keine Ware mehr sein«
- rbb Abendschau, 9.4.2019, 19:30 Nach der Ladenbesetzung im Wrangelkiez, Innensenator Geisel äußert sich zu umstrittenem Polizeieinsatz
- Der Tagesspiegel, 7.4.2019: Kritik an gewaltsamer Räumung in der Wrangelstraße, „Das habe ich noch nie erlebt“
- neues deutschland, 8.4.2019: Polizeieinsatz bei Besetzung könnte parlamentarisches Nachspiel haben, LINKE und Grüne fordern Aufklärung über die gewaltsame Räumung eines leerstehenden Ladenlokals in Kreuzberg
Die Person, welche einen Polizisten mit einem Messer bedroht hat, ist mittlerweile ausfindig gemacht. Weiterhin wird nach einem Anstifter gesucht.
https://www.berlin.de/polizei/polizeimeldungen/pressemitteilung.800459.php
Dass die tat hier in angezweifuelt wurde, wirft ein sehr zweifelhaftes Licht auf die Bizim-Kiez-Initiative. Mit der hiesigen tendenziösen Berichterstattung habt ihr euch kaum einen Gefallen getan.
Die hiesige Berichterstattung basiert auf Augenzeugenberichten von Aktiven von Bizim Kiez und der Initiative nahestehenden Personen. Was den Bericht der Polizei angeht, so möchten wir auf eine Aussage des deutschen Journalisten-Verbands verweisen:
„Der DJV-Vorsitzende weist darauf hin, dass die Polizei bei Auseinandersetzungen Partei sei und nicht unparteiischer Beobachter: „Das müssen wir Journalisten immer im Hinterkopf haben, wenn wir den Polizeibericht lesen.“ Damit Redaktionen über genügend Material verfügen, seien Bilder und Informationen von Journalisten vor Ort unverzichtbar. Es sei Aufgabe der Polizei, die anwesenden Reporter in ihrer Arbeit zu unterstützen.“
(https://www.djv.de/startseite/profil/der-djv/pressebereich-download/pressemitteilungen/detail/article/polizeiberichte-kritisch-hinterfragen.html)
Zum Weiterlesen: Artikel zur aktuellen Studie zu unrechtmäßiger Polizeigewalt in Deutschland (hier einzusehen: https://kviapol.rub.de).
„In 55 Prozent der erfassten Fälle fand die Polizeigewalt bei einer Demonstration oder politischen Aktion statt, bei 25 Prozent auf einer Großveranstaltung oder einem Fußballspiel, die restlichen 20 Prozent verteilen sich über andere Kontaktsituationen mit der Polizei.“
(https://netzpolitik.org/2019/studie-polizeigewalt-richtet-sich-meistens-gegen-demonstrationsteilnehmer-und-fussballfans/)
„Mehr als zwei Drittel der Befragten (71 Prozent) berichteten von leichten und mittleren Verletzungen. Fast jeder Fünfte (19 Prozent) gab an, schwere Verletzungen wie Knochenbrüche, Kopfwunden oder innere Verletzungen erlitten zu haben. Bei 31 Prozent dauerte der Heilungsprozess mehrere Wochen. Vier Prozent gaben an, bleibende Schäden erlitten zu haben. Ein Ermittlungsverfahren gegen die Polizisten wurde nach Kenntnis der Betroffenen in nur 14 Prozent der berichteten Fälle eingeleitet. Gegen eine Anzeige entschieden sich die Betroffenen vor allem, weil sie sich keine Chance ausrechneten oder als Rache eine Gegenanzeige der Polizisten befürchteten.“
(https://www.welt.de/vermischtes/article200433794/Illegale-Polizeigewalt-Schlaeger-in-Uniform-Studie-sieht-grosses-Dunkelfeld.html)
„Die Folgen der Gewalt sind für die Betroffenen der Studie zufolge beträchtlich: Ein Drittel der Betroffenen ließ sich nach einem Vorfall von einem Arzt behandeln, neun Prozent nahmen psychologische Hilfe in Anspruch. Jeder Fünfte (19 Prozent) berichtete von Schlafstörungen, etwa zehn Prozent der Befragten zogen sich sogar aus ihrem sozialen Umfeld zurück. Opfer von Polizeigewalt zu werden verschlechtert auch das Bild, das Bürgerinnen und Bürger von der Polizei haben: 85 Prozent gaben an, Wut, Angst oder Unwohlsein zu verspüren, wenn sie nach der Gewalterfahrung wieder auf Polizisten trafen.“
(https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2019-09/polizeigewalt-studie-ruhr-universitaet-bochum-betroffene-koerperverletzung-polizei)
„Offizielle Zahlen zu Polizeigewalt bilden nur einen kleinen Ausschnitt der Realität ab. Das ist ein Ergebnis einer Studie des Teams um den Bochumer Kriminologen Tobias Singelnstein. Demnach gibt es mindestens fünfmal mehr Verdachtsfälle von Polizeigewalt, als in der Statistik aufgeführt werden. 2018 schlossen die Staatsanwaltschaften gut 2000 Verfahren ab.“
(https://www.spiegel.de/panorama/justiz/polizeigewalt-studie-tausende-menschen-berichten-von-ihren-erfahrungen-a-1286381.html)
„Bei der Institution Polizei sei die Bereitschaft bislang nicht sehr groß ausgeprägt, sich mit dem Problem auseinanderzusetzen, sagt Singelnstein. Da werde dann oft die Einzelfall-Theorie als Verteidigung herangeführt. „Ich würde mir wünschen, dass die Polizei stärker anerkennt, dass es sich durchaus um ein strukturelles Problem polizeilicher Tätigkeit handelt“, so der Kriminologe.“
(https://www.deutschlandfunkkultur.de/studie-zu-polizeigewalt-wenn-der-freund-und-helfer.1008.de.html?dram:article_id=459046)