Unser Kreuzberg! Es geht um mehr als einen Gemüseladen – der Wrangelkiez wehrt sich gegen Verdrängung
Unser Kreuzberg!
Es geht um mehr als einen Gemüseladen – der Wrangelkiez wehrt sich gegen Verdrängung
Von Kathrin Otto
Fotos und Kurzinterviews: Matthias Coers
Seine Kündigung hat eine ganze Nachbarschaft empört und in Bewegung gesetzt. Er hat international Schlagzeilen gemacht. Er wurde bei Twitter augenzwinkernd zum „Robbenbaby der Gentrifizierung“ gekürt. Er wurde von der Presse als „gerettet“ erklärt und bleibt dennoch jederzeit kündbar und damit in seiner Existenz bedroht: „Bizim Bakkal“ , türkisch für „Unser Laden“ . Der seit 28 Jahren von Ahmet Çalışkan geführte Obst- und Gemüsehandel in der Kreuzberger Wrangelstraße 77 wurde zum Symbol für vieles – für das, was schief läuft, und dafür, dass man sich wehren kann.
Die Geschichte begann, wie viele Geschichten in Berlin beginnen: Ein Haus wird verkauft und der neue Eigentümer plant eine Modernisierung und die Umwandlung in Eigentumswohnungen. In diesem Fall ist es die Gekko Real Estate GmbH. Der Mann dahinter heißt Ioannis Moraitis. Er wurde vom Stadtmagazin Zitty in die Top 3 der „bissigsten Immobilienhaie“ Berlins gewählt. Die Mieter/innen versucht er durch Auszugsprämien loszuwerden, der Gemüseladen soll lukrativem Gewerbe weichen. Da unbefristete Gewerbemietverträge mit einer nur dreimonatigen Frist kündbar sind, scheint es ein leichtes Geschäft zu sein. Doch als die Nachricht von der Kündigung Ende Mai dieses Jahres die Runde macht und Nachbar/innen mit Handzetteln zu einem ersten Treffen aufrufen, nimmt die Geschichte eine andere Wendung.
Bizim Kiez
Die Überraschung ist groß, als schon auf den ersten Aufruf hin rund hundert Nachbar/innen zusammen kommen und das Treffen so zu einer ersten öffentlichen Aktion wird. Es folgen über ganze 16 Sommerwochen hinweg jeden Mittwoch Versammlungen mit oft mehreren hundert Teilnehmer/innen. Zum Programm tragen Musiker/innen, Schriftsteller/innen, Stadtsoziolog/innen, Filmschaffende und viele weitere Kreative bei. Nachbar/innen berichten am offenen Mikrofon über die aktuelle Entwicklung im Kiez und von ihren eigenen Erfahrungen mit Investoren. Sie picknicken, tanzen, demonstrieren, lernen sich kennen. Hinzu kommen wöchentliche Treffen offener Arbeitsgruppen in den angrenzenden Läden und Cafés. Dort organisiert sich die Nachbarschaft. Informiert und mobilisiert wird im Internet ebenso wie auf den Straßen, die gesäumt sind von Plakaten und Aufklebern mit dem Slogan „Bizim Kiez“ – auf Deutsch: „Unser Kiez“.
Unter dem Motto Bizim Kiez engagieren sich die Anwohner/innen längst nicht mehr nur für den Gemüseladen, sondern sie kämpfen „für den Erhalt der Nachbarschaft im Wrangelkiez“. In den Arbeitsgruppen recherchieren sie zahlreiche Fälle der Verdrängung von Mieter/innen und Kleingewerbetreibenden. Mit den Betroffenen loten sie Möglichkeiten des Widerstands aus. Ihre Online-Petition „Wir sind die Stadt! Stoppt die menschenfeindliche Immobilien-Spekulation“ fand rund 10.000 Unterzeichner/innen. Doch auch im kleineren Rahmen lässt sich von Erfolgen berichten. Beispielsweise wurden jeden Mittwoch Postkarten bereitgelegt, auf denen Unmutsbekundungen an die Hausverwaltungen bedrohter Kleingewerbe versendet werden konnten. Mit der großen Medienresonanz im Rücken hat oft schon der Druck dieser Postkartenaktion gereicht, um so manchen Vermieter wieder an den Verhandlungstisch zu bewegen. Ein Fahrradladen und ein Spätkauf können nun bleiben.
„Wer Häuser aufwertet, wertet Menschen ab“
Ahmet Çalışkan selbst hat auf einer Mittwochsversammlung daran erinnert, dass sein Laden keineswegs der einzige und bei Weitem nicht der erste ist, dem gekündigt wurde. Rasant steigende Mieten und die Umwandlung in Eigentum, aber auch die Ausrichtung des Gewerbes am Tourismus haben das Gesicht des Kiezes bereits stark verändert – auf Kosten traditionellen Einzelhandels, sozialer Einrichtungen, alteingesessener Mieter/innen und ihrer gewachsenen sozialen Netzwerke. „Diejenigen, die die Lebensqualität in den Städten geschaffen haben, werden nun bestohlen“, schreibt Bizim Kiez, denn: „Wer Häuser aufwertet, wertet Menschen ab“. Der Gemüseladen steht exemplarisch für die sozialen Kosten der Verdrängung durch die Verwertung von Immobilien. Trotz weiterhin hoher Armut und moderater Bestandsmieten, zählte Kreuzberg bereits 2013 mit Angebotsmieten von durchschnittlich fast 9 Euro/qm zu den teuersten Gegenden Berlins. In kaum einem anderen Stadtteil ist die am Markt durchsetzbare Mieterhöhung bei Neuvermietung so groß wie in Kreuzberg. Diese Ertragslücke trachten Investoren mit allen Mitteln zu schließen. Dazu benutzen sie unter anderem die Förderung der energetischen Modernisierung, von Bizim Kiez als „Brecheisen zur Zerstörung alter Mietverträge“ gebrandmarkt.
Karte der Verdrängung
Um die vielen aktuellen „Fälle“ aus der Vereinzelung zu holen, greift Bizim Kiez auf das Instrument der „kritischen Kartierung“ zurück. Rechercheergebnisse zu geplanten Modernisierungen oder Umwandlungen in Eigentum, zu spekulativem Leerstand und Kündigungen von Gewerberäumen werden in der „Karte der Verdrängung“ zusammengeführt. Sie ist auf der Webseite von Bizim Kiez abrufbar. Auf der Karte drängen sich 90 Fähnchen im Milieuschutzgebiet Luisenstadt, besonders dicht im Wrangelkiez. Diese 90 „Fälle“ visualisieren den enormen Druck, unter dem Mieter/innen und Kiezstrukturen dort stehen, aber sie zeigen auch das Potenzial für Kooperation und Gegenwehr. Zu jedem Haus sollen Informationen zum Eigentümer und dessen „Strategien und Vorgehensweisen der Entmietung“ dokumentiert werden. So wird die Karte zum Werkzeug, „um sich zu finden, zu vernetzen und daraus gemeinschaftlichen Widerstand entstehen zu lassen“.
Hierbei kann eine besondere Stärke von Bizim Kiez zum Tragen kommen. Es handelt sich um keinen klassischen Zusammenschluss von direkt Betroffenen, sondern um ein Bündnis solidarischer Nachbar/innen, die vielfältige Erfahrungen und Fähigkeiten mit- und einbringen. Dadurch kann Bizim Kiez im Einzelfall unterstützen und Öffentlichkeit schaffen, zusätzlich aber auch Verbindungen herstellen und übergreifende politische Forderungen formulieren.
Wachsam durch den Winter
Die Bizim Kiez Bewegung will in der kälteren Jahreszeit nur noch monatlich zu Kundgebungen aufrufen. Die Arbeit wird aber weitergehen. Ganz oben auf der Agenda stehen immer noch ein langfristiger Mietvertrag und eine gesicherte Perspektive für den Gemüseladen Bizim Bakkal. Damit verbunden ist die Forderung, den Milieuschutz auf Kleingewerbe auszuweiten – und dann auch wirkungsvoll umzusetzen. Zwar hat der Investor Ioannis Moraitis die Kündigung von Bizim Bakkal aufgrund des Drucks zunächst zurückgezogen, doch er bleibt aktiv. Angekündigt ist der Abriss der Remise, die von Ahmet Çalışkan als Lagerraum genutzt wird. Angedroht wurde auch der Einbau eines Aufzugs, der aber abgewehrt wurde, da er weder ortsüblich ist noch barrierefrei geplant war. Bizim Kiez beobachtet wachsam mögliche Bauaktivitäten und kündigt auf der Website an, etwaigen Gerüstbau als Beginn einer Modernisierung nicht hinnehmen zu wollen. Hier konnte man aus den Erfahrungen der Mieter/innen der Zossener Straße 4 lernen, deren Haus ebenfalls von einer Moraitis gehörenden GmbH erworben wurde (Seite 4). Dort wurde ohne jede Ankündigung ein Gerüst errichtet. Sieben Monate lang wurden im Schneckentempo Fassaden- und Dacharbeiten verrichtet, über Wochen stand das Haus ohne Dach und Abdeckung.
Gegen solcherlei Vorgehen hilft nur politischer Druck, der eine effektive Regulierung durchsetzt – das gilt ebenso für den bislang zahnlos gebliebenen Milieuschutz wie mit Blick auf die politisch gewollte energetische Modernisierung. Das mitunter als „Sommermärchen“ bezeichnete Phänomen Bizim Kiez weckt bei vielen die Hoffnung, dass durch nachbarschaftliche Solidarität eine Gegenmacht zur profitorientierten Zurichtung der Stadt aufgebaut werden kann. Wo manche sich und ihre Nachbar/innen bereits für resigniert erklärt hatten, konnten sie aus der Überraschung über die plötzliche Stärke und das neue Miteinander im Kiez neue Kraft schöpfen – und die alte Frage „Wem gehört die Stadt?“ mit einem selbstbewussten „Uns!“ beantworten.
Nancy lebt mit ihrem Freund und ihrer Tochter Lara seit fünf Jahren in einer kleinen Altbauwohnung im Viertel:
Ich hatte vorher noch nie so einen Kiez gesehen, er kam mir sehr freundlich vor. Man kennt sich gegenseitig und weiß, wer die Nachbar/innen sind. Man kriegt mit, wie viel Schaden der Prozess der Verdrängung anrichten kann, wenn man nicht nur Zahlen liest, sondern die Leute persönlich kennt. Auch die Kaffeekultur gefällt mir. Ich hoffe ganz stark, dass der Kiez den Charme behält. Und natürlich sind die Chancen höher, wenn sich viele zusammen tun und was machen.
Thomas ist 1985 in die Falckensteinstraße gezogen:
Seit Ende der 80er Jahre kaufe ich bei Bizim Bakkal ein. Der Laden ist für mich ein Fenster in die türkische Community. Anfangs, beim Schreiben der ersten Einladung an die Nachbar/innen, ging es nur um den Erhalt des Ladens, es hat sich aber viel mehr daraus entwickelt. Wir haben uns die Aufgabe gestellt, Verdrängung aus dem Kiez zu bekämpfen, vor allem die von einkommensschwachen Schichten. Die Stärke von Bizim Kiez ist, dass wir die Unterschiedlichkeit der Beteiligten aushalten und trotzdem zusammen Politik machen.
Mehmet lebt mit seiner Familie seit 1976 mit Unterbrechungen im Kiez:
Für türkisch- oder arabischstämmige Berliner/innen ist es erheblich schwieriger, in Marzahn Fuß zu fassen. Die gesamte soziale Kompetenz greift da nicht. Die Initiative macht gute Arbeit. Alle, die Verantwortung übernehmen, sind gewissenhaft. Zunehmend kommen Nachbar/innen, die bisher nicht politisch eingestellt waren. Bizim Kiez ist so präsent, dass es sich manche Hausbesitzer überlegen, wie sie mit ihren Mieter/innen umgehen. Die Touristen empfinde ich als Bereicherung, solange nicht Wohnungen verloren gehen.
Gabriela wohnt seit 1980 in Kreuzberg und seit zwei Jahren wieder im Wrangelkiez:
Die Kündigung von Ahmet Çalışkan war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Hier engagieren sich so viele Menschen mit Potenzial und Begeisterung. Die ganzen Läden haben für unsere Arbeitsgruppen ihre Türen geöffnet. Es besteht eine nachbarschaftliche Feier- und Unterstützungskultur. Die derzeitige Stadtverwaltung organisiert eigentlich nicht, sondern überlässt vieles dem privatwirtschaftlichen Zufall. Ich hingegen wünsche mir ein investorenfreies Kreuzberg.
Arno ist seit 1984 Mieter im Wrangelkiez:
Die meisten haben verstanden, dass sie unter Druck gesetzt sind. Kaum einer will das Leben hier aufgeben. Es hat mich motiviert und nimmt einem die Angst, wenn Leute da sind, die die scheinbar unausweichliche Entwicklung nicht hinnehmen wollen. Mit der Zeit kennt man sich auch besser mit Mieterrechten aus. Eine offene Nachbarschaftsinitiative wie Bizim Kiez kann durchaus schnell und pragmatisch agieren, wenn einige Personen mit Überzeugung, Wissen und Kontinuität dabei sind.
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