Ernst Weltner – BizimKiez Geschichten – Lesung auf der Wrangelstraße vor Bizim Bakkal im Sommer 2015 (Videoclips)
Geschrieben von Ernst Weltner
Vorgetragen von Ernst Weltner
„Ernst Weltner lebt länger als sein halbes Leben hier im Kiez und hat die Veränderungen mit seinen eigenen Augen beobachtet und für sich in seinen Kiezgeschichten festgehalten. Er weiß wie es hier früher aussah, erinnert sich wie die Eckkneipen hießen, in denen man mehr Zeit verbrachte als Zuhause und kannte die zahlreichen Blumenverkäufer_innen, von denen aktuell nur noch ein Laden in der Wrangelstraße übrig geblieben ist. Ernst nimmt uns mit auf eine Zeitreise, die bei den Alteingesessenen Erinnerungen wach werden lassen und den Jüngeren und Neuzugezogenen die Besonderheiten des Kiezes näherbringen.“
- VIELFALT statt Ballermann … Drospa muss wieder her !
- Der „Wilde Eber“ im Wandel der Zeiten
- Mein Freund – der Dschihad
- GÖRLITZER PARK – früher
- Der Bäckerladen in der Lübbener Str.
- Die Neue Zeit – im Wrangelkiez
- MEIN NACHBAR – DER GÜLÜM
- Die Blumenläden und die Wrangelstraße
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VIELFALT statt Ballermann … Drospa muss wieder her !
Früher gab es viele verschiedene Geschäfte und es war – jetzt mal ehrlich – früher alles viel besser … nur – die Zukunft war schlechter …
In der Wrangelstraße, vorne an der Ecke zur Hochbahn, gab es die Sexfilmbar „l`amour“, Spötter behaupten im Ernst, das war ein Puff – und wenn – es war keine Yuppie-Bar – und schräg gegenüber – in der Lübbener Str. war „das kleine Kaufhaus Monika“ mit Haushaltszubehör. Fast alles gab es da – Nylonstrümpfe, Schlüpfer, Nähzeugs und … weiße Turnschuhe, die waren in den 80 er Jahren unglaublich in und ich musste so ziemlich die letzten bei Monika gekauft haben, denn als Joschka Fischer, seines Zeichens weißer Turnschuhrevoluzzer, als erster grüner Minister in die Geschichte der BRD mit weißen Turnschuhen einging, ging es mit Monika bergab – und Joschka wurde fetter und fetter und keiner im Kiez wollte noch weiße Turnschuhe kaufen, Monika machte den Laden dicht … und Joschka wurde Außenminister.
Aus Trotz kam eine Drogerie in den Laden und kurz nach Maueröffnung verirrte sich Jürgen, ein weltoffener Gemüsebauer aus Brandenburg mit einem Pritschenwagen in eine Sackgasse, die schon damals Lübbener Str. hieß – blieb darin stecken und stellte Kisten voll mit Obst, Gemüse und Gurken vor Drospa ab.
Irgendwann verschluckte Schlecker Drospa und irgendwann verschluckte Schlecker sich selbst, furzte und ging pleite. Dann war gut und gerne 1 Jahr Leere und Ruhe im Karton, bis irgendwann geräuschempfindliche Kiez-Bewohner Töne im leeren Raum hörten. Ein neuer Pächter tauchte auf und die Kisten von Jürgen mussten verschwinden. Zum Glück konnte der Gemüsebauer die Straßenseite wechseln und friedlich vor dem Army-Shop seine Teltower Rüben, Tomaten oder Äpfel hinstellen.
Seit einer Woche hat der Laden einen giftgrünen Anstrich und die Gerüchte verdichten sich, es soll ein edles Frühstückscafé werden! Genau darauf hat der Kiez und seine Bewohner sehnsüchtig gewartet, so was fehlte – noch ! … Das lockt allemal edle Reisebustouristen mit schicken Smartphones an, die voll cool und voll lässig, die letzten noch ungepflegten, authentischen Ureinwohner, die früher Häuser besetzten oder vom Sozialamt lebten, fotografieren können.
Darauf „freuen“ sich bestimmt alle – im Kiez !!
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Der „Wilde Eber“ im Wandel der Zeiten
Taboreck, Wrangeleck, Lübbener Eck, Koks Eck, Egon Stoff, Kuckucksei oder zum Wilden Eber, so hießen die Kneipen früher im Wrangelkiez. Im Wilden Eber in der Oppelner Straße trafen sich aufrechte Bürger oder friedliche Lehrer, die sich für einen lebenswerten Kiez engagierten und bis spät in der Nacht ein oder mehr Bier tranken und von einer besseren Welt träumten. Als Nov.1989 nicht nur Rentner, sondern fast alle hinter der Oberbaumbrücke rüber liefen und sich kilometerlang in Reih und Glied wegen Begrüßungsgeld bei der Post anstellten, räumten sie anschließend mit 100 D Mark bewaffnet oder befreit – die Regale bei Penny oder Kaisers leer. Viele Gäste aus dem Wilden Eber waren darüber etwas verstört und manche flüchteten danach mit Frau und Kinderwagen in andere Bezirke.
Der „Wilder Eber“ kam in den Zoo und verwandelte sich nach und nach in ein Internetcafé, wo jetzt drinnen und draußen, Jugendliche mit wenig Zukunft, aber mit viel Testosteron ihre Langeweile austoben und den wilden Eber oder die Sau rauslassen.
Drinnen im Laden will ich von Google und Wikipedia wissen, woher kommt diese aggressive Energie von Jugendlichen. Genau so schlau wie vorher verlasse ich den Laden und finde draußen eine moderne Kunstinstallation „gelber Schaumstoff, der aus einem Kunststoffbezug herausquillt“… Unter dem Kunstobjekt befindet sich ein Fahrrad. Das Fahrrad gehört mir und die Kunstinstallation „gelber Schaumstoff“ ist mein Sattel !!! Ich drehe am Rad und bin ehrlich gesagt – wenig amüsiert.
Eine junge Verkäuferin von einem Vollkornbäcker nebenan (Anmerkung: damals „Brotgarten“, heute Friseur) in der Nähe sieht mich und sagt leise, dass waren die und zeigt unauffällig auf die Kids. Wutentschlossen mit viel Adrenalin gehe ich zum Größten, augenscheinlich der Anführer und Boss und spreche ihn an.
Warum macht ihr so einen Blödsinn?
Warum Blödsinn – fragt er mich?
Na den Blödsinn und zeige auf das Kunstobjekt – „aufgeschlitzter Sattel“.
Waren wir das ?
Ja ihr wart das, sage ich energisch und klar!!
Sichtlich beeindruckt bestellt er seine Gruppe um sich und fragt: Wer von euch hat diesen Blödsinn verbrochen?! Verlegenes Schweigen, keiner will es gewesen sein, plötzlich sagt mutig und freudestrahlend ein etwa 12 jähriger Junge: ich klau dir einen neuen … Ich fühle mich geehrt, er will extra für mich einen neuen Sattel klauen … aber so löst man doch keine Probleme, sage ich sozialpädagogisch korrekt. Der Boss ist etwas enttäuscht, wiegt seinen Kopf von links nach rechts und sagt nach reiflicher Überlegung, „tut mir leid Mann“. Ich fahre los auf meinem aufgeschlitzten Sattel, innerlich jetzt eher amüsiert, einige aus der Gruppe rufen mir mitfühlend nach, „tut uns echt leid Mann….“ äußerlich eher ernsthaft.
Ein paar Monate später….
2 zwölfjährige Türkenkids wurden in der Wrangelstrasse von der deutschen Polizei verhaftet, in Handschellen gelegt, sie haben entweder einen Fahrradsattel oder einen MP3-Player geklaut. Kreuzberger türkischer Herkunft sind empört, als sie Kinder mit entwürdigenden Handschellen entdecken. Ein zwölfjähriger mit deutscher Herkunft würde nie erwischt, verhaftet und gedemütigt in Handschellen gelegt. Sie schimpfen, fluchen, die Vorurteile blühen und sprießen im Kiez, es wird gedrängt, geschubst, es spricht sich herum und die Polizei fühlt sich von 80 bis 100 Jugendlichen bedroht. Alles Lüge berichten die Anderen, jeder sieht sich im Recht, für die Zeitungen mit den dicken Balken – ein großes Geschäft, – die Krawalle und die brennenden Autos der Pariser Randbezirke werden zum Vergleich herangezogen. Eine Innenministerkonferenz wird einberufen, denn „die Freiheit muss nicht nur am Hindukusch, sondern auch in der Wrangelstr. verteidigt werden….“Medienleute überfallen den Kiez und jeder Jugendlicher der irgendwie türkisch oder arabisch aussieht erhält 20 Euro für ein Interview. Am früheren Wilden Eber sehe ich die Internetkids neugierig ihre Köpfe, vermutlich zum ersten Mal, in irgendwelchen deutschen Zeitungen stecken. Mittendrin im Getümmel – ihr Boss, umringt von Kameraleuten – beantwortet cool, souverän alle Fragen: Hindukusch? Noch nie gehört. Freiheit in der Wrangelstr.: „hmm – und denkt an Grafities oder aufgeschlitzter Sattel ? „Warum denn nicht…..“ Er ist stolz, in diesem Moment sehr wichtig und mit seinem blauen Auge – endlich ein Held.
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Mein Freund – der Dschihad
Es gab im Wrangelkiez einen Imbiss, der war nicht gut und weil er nicht gut war, lief er nicht gut und wurde dauernd „neu eröffnet“. Danach sah der Imbiss aus wie vorher, bis er wieder „neu eröffnet“ wurde. Das wiederholte sich Jahr für Jahr bis irgendwann ein Schild im Fenster hing: NEU ERÖFFNET !
Total neugierig wagte ich einen Blick ins Innere und wirklich – alles war Neu ! Es gab keine Döner, sondern Falafel, Schawarma und Halumi. Selbst der Mann hinter der Theke war nagelneu und hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mit dem Vorbesitzer … Er strahlt mich freundlich an und ich bin der einzige Kunde.
„Möchten Sie einen Tee, natürlich umsonst“, sagt er.
Sehr gerne. Ich bestelle einen Teller Falafel.
„Welche Sauce? Erdnuss, Mango, Knoblauch, Sesam … und wenn sie wollen auch eine scharfe Sauce“.
Ich kann mich gar nicht entscheiden vor so vielen bunten Saucen. Von jedem etwas, sage ich.
Wie sie wünschen, der Herr. Der Mann ist nett, ich würde sagen – sehr sympathisch. Die Zubereitung dauert, aber alles ist frisch. Im Raum riecht es wohlig nach Koriander, Minze, Sesam oder Kardamom. Noch einen Tee – selbstverständlich gerne, ich lehne nicht ab.
Wir kommen ins Gespräch und sind schnell vertraut. Er fragt nach meinem Namen. „Ernst – das Gegenteil von Spaß“, sage ich. Das kann nicht sein. Was heißt Ernst, fragt er. Ich referiere aus dem Lexikon die althochdeutsche Version von Ernst: Sorge, Kampf, entschlossen, streng, der Streit, zum Kampf bereit …-
Nein, nein, nein, so siehst du nicht aus, sagt er …
Und wie heißt du, frage ich.
Dschiiiihad.
Was ? Das ist nicht dein Ernst – das kann nicht sein ?!
„Doch, so heißen viele in Jordanien, ein beliebter Name und ich bin Palästinenser.
Ernst war früher auch beliebt, sage ich
„Jetzt mal ehrlich, wie kann man „Heiliger Krieg“ heißen ?
Dschihad heißt nicht Heiliger Krieg mein Freund, sagt er.
Was dann ?
„Die immer währende Suche nach der Wahrheit, der ständige Kampf, die permanente Auseinandersetzung mit sich selbst, mit dem Glauben und …“
Wir unterhielten uns lange über Gott und die Welt. Ein wirklich netter Mensch – der Dschihad, muss ich sagen. Bis zum nächsten Mal sage ich irgendwann und reichen uns zum Abschied die Hände.
Ein paar Tage später komme ich wieder. Der Laden ist mittlerweile gut gefüllt.
„Hallo mein Freund Ernst“ begrüßt er mich überschwänglich. Alle Gäste im Raum schauen auf.
Ich begrüße ihn „Hallo mein Freund….“ aber als ich seinen Vornamen aussprechen will, bremse ich verlegen … ein bisschen peinlich oder unheimlich ist mir sein Name schon – noch – vor all den unwissenden Leuten …
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GÖRLITZER PARK – früher
Im Morgengrauen, wenn die Luft noch kühl und rein, die Vögel vielstimmig laut in der Stille singen, ein Alphornbläser auf der Wiese mit wunderbaren Klängen den Park erfüllt, im Osten, hinterm Treptower Park, die Sonne neugierig, verschlafen die Augen sich reibt und mit sanften Strahlen das feuchte Gras berührt. Ein junges Liebespaar, eng umschlungen bei der letzten Glut eines Lagerfeuers sich küsst, ist der Augenblick wo der Görlitzer Park aus dem Schlaf erwacht.
Von all dem sieht, hört frühmorgens ein seltsamer Golfer nichts, denn er sucht, findet seinen Ball im Gebüsch und schlägt ihn im hohen Bogen in eine tiefe Mulde, wo einst ein Tunnel oder Harnröhre war.
… Jetzt kommen die Jogger, die Hunde, die Herrchen, die Spieler, die Dealer, es verstecken sich die Hasen, es fliegen die Tauben, Spatzen und Raben … Später kommen die Griller und die Krähen fressen, verstreuen den Müll.
Im Park fand ich auf einem einsamen Holzkohlengrill – Turnschuhe mit einem Zettel drauf:
Grillst du noch oder walkst du schon? Die Turnschuhe nahm ich, den Holzkohlengrill nicht – so bin ich ein echter Walker geworden …
Auf einem Spaziergang im Park raschelt es urplötzlich im Gestrüpp, eine aufgeregte Krähe hackt auf eine friedliche Taube ein. Wenn der Mächtige den Schwachen, der Große den Kleinen oder der ältere Bruder den jüngeren verhaut – regt mich so was fürchterlich auf.
Ist so Natur oder ist das Gesetz – die Krähe, ziemlich aggressiv, ein paar Zentimeter größer mit einem spitzen Schnabel, hat sie das Recht?
Himmel, Herrgott, Sakrament – wo ist Gott ?
Er schweigt – und es kam kein Licht, nur Finsternis …
und die Krähe, als wäre da nichts, hackt weiter auf die friedliche Taube ein.
Jetzt aber reicht`s, ich mische mich ein:
Ich bin groß, ich bin stark, ich bin ein Mensch, ich bin ein Walker – und wenn ich so einen blöden Stecken hätte … Oh, jetzt ist sie beeindruckt und hüpft tatsächlich ein paar Trippelschritte zurück.
Ich komme in Fahrt und bedrohe sie mit dem imaginären Stock und sie – hüpft lässig auf den nächst gelegenen Ast und Zweig. Wütend springe ich hoch, schüttle, rüttle – und die Krähe – flattert auf die Wiese und ich hinterher.
3 Trippelschritte nach vorn, zwei zurück, links und rechts und vor zurück, rückwärts, vorwärts, seitwärts, eins … ein Hut, ein Stock, ein Regenschirm, und vorwärts, rückwärts, seitwärts bei und eins und zwei und drei und vier …
Jetzt läuft eine Frau mit Uhr, aber wenig Humor, in den Park herein, sieht uns und schreit: Lass doch den Vogel in Ruh …
Was mischt sie sich ein?
Der Vogel und ich – im Rhythmus, Gesang und Tanz fast schon eins, schauen uns tief in die Augen. Ich sag zum Vogel: Hey du – ich lass dich in Ruh, aber bitte – lass auch die arme, friedliche Taube in Ruh … Sie denkt, sie ist intelligent.
In Ordnung – sagt sie, die Taube lass ich in Ruh – aber jetzt geh und verschwind –
und lass mich in Ruh…… Kräääääääääh …
Der Bäckerladen in der Lübbener Str.
Als ich aus der Enge, aus der Dunkelheit ins Licht kam, – sah ich im Anfang die Frau, es war die Hebamme – und dann kam das Wort: jetzt bist du endlich auf der Welt, wir haben einen neuen Weltner. Diesen Spruch fand ich auf Anhieb gut und musste ununterbrochen lachen, bis meine Mutter sagte, jetzt bleib doch mal ernst! Aus Trotz blieb ich solange ernst, bis sie mich Ernst nannten. Als es dem Ernst, also mir, auf dem Dorf, in der Provinz zu langweilig und zu eng wurde, flüchtete ich in die Großstadt Berlin, nach Kreuzberg in eine WG in der Lübbener Straße. Für das erste Frühstück fand ich ein paar Häuser weiter einen Bäcker, ich sagte mir – da gehst du rein:
… Die Verkäuferin hinter dem Ladentisch blickt mich böse an. Was habe ich ihr getan? … Grüß Gott habe ich nicht gesagt, das ist mir bei der Ankunft in Berlin noch so herausgerutscht und da schnauzt mich der erste Berliner an: Wenn du ihn triffst, also den Gott, streich ihn grün an. Mein Gott – an Gott habe ich überhaupt nicht gedacht …
Ich habe sehr freundlich guden Dag zur Frau gesagt … Vielleicht hört sie an der Klangfärbung oder an der Bedonung der Konsonanden, dass schon wieder ein Verrückter mehr aus Süddeutschland, vermutlich aus Franken, ihr Kreuzberg bedroht oder besetzen will. Aber werde ich schon dafür bestraft, dass ich einkaufen will? Dabei hätte ich allen Grund böse zu sein, denn alles sieht trostlos, unappetitlich aus und ich wäre am liebsten sofort aus dem Laden gerannt. Vielleicht hätte ich besser fragen sollen: Liebe Frau, ich bin neu, komme vom Land, können sie mir sagen, wie ich in die Wrangelstr. komme, oder noch besser: haben sie Eierringe oder einen Kissinger? Dann hätte sie bestimmt gesagt: Kenn ick nicht, jibt’s hier nicht, ham wir nicht…. Das fiel mir leider nicht ein … Ich schaue auf das traurig aussehende Backwarenangebot und suche etwas, das unserem Kipf ähnelt. Kipf darf ich auf keinen Fall sagen, das wird sie nicht verstehen … Ich überlege und sage in meinem besten Hochdeutsch: Ich möchde 6 Brödchen. Sie schweigt und ihr Blick verfinstert sich um eine Nuance … Ist sie etwa taubstumm? Dann soll sie doch ein Schild auf den Ladentisch stellen: Ich höre nichts, ich verstehe nichts, sprechen sie mich bitte nicht an … dann weiß ich wenigsten woran ich bin … Ich unternehme einen neuen Anlauf und bewege, forme meinen Mund sehr deutlich: Ich möchte 6 Brrrrötchen, gestikuliere, zeige mit den Fingern auf das was aussieht wie Brötchen oder aufgeblasene Luftballons, erkennbarer, aufdringlicher. Schließlich drücke ich so heftig auf die Glasscheibe, bis ich diese Dinger – hinter der Scheibe, fast zum Platzen bringe … Plötzlich zischt es – Schrippe – aus der Frau heraus. Sie kann sprechen!! … Nein nicht Schrippe, ich möchte 6 Brrrötchen !!!! korrigiere ich. Noch mal zischt sie nur das eine Wort, greift mit ihren Fingern diese Schrippen, steckt sie in eine Tüte und ich – verlasse für immer den Laden.
Ich weiß jetzt, warum sie Schrippe gesagt hat … die schmeckten nicht nach Kipf oder Brötchen, das mussten Schrippen gewesen sein …
Die Geschichte zur Geschichte:
Als ich 2011 für eine Lesung im Kvartira 62 – Kiezgeschichten vorbereitete, fragte Sascha der Wirt, ob ich eine Geschichte zur Kneipe wüsste. Ich überlegte und dann fiel sie mir ein …
In den frühen 80 er, im vorderen Teil des Restaurants, wo heute Lesungen oder kleine Konzerte stattfinden, war eine Bäckereifiliale von Piontek. Eine Filiale von Piontek gab es auch in der Cuvrystraße, an der Stelle wo heute „Beumer und Lutum“ ist. Nachweislich gehörte die Bäckerei Piontek nicht zum Verband „die hohe Schule des Backkunsthandwerks“ … Die Filiale in der Lübbener Straße wurde nicht verdrängt, sondern vertrieb nach meinem Gefühl mit Vorsatz den letzten, noch zahlungswilligen Kunden, so dass das Ladengeschäft kurz nach meiner Ankunft in derselben Straße schloss – und ich bin mir nicht sicher, ob sich ein Alteingesessener noch an diese Bäckerei erinnert …
Den speziellen „Humor“ der Verkäuferin habe ich nicht vergessen, jetzt mit etwas Abstand kann ich ihn fast „verstehen“ und das Brötchen in Berlin auch Schrippen heißen dürfen oder müssen, kann ich nachvollziehen.
Nach der Episode der „hohen Backkunst“ kam für mehrere Jahre ein Zeitungskiosk rein. Als die vorletzte Inhaberin ein paar mal ausgeraubt wurde und sie völlig verheult eingestand – jetzt reicht´s aber auch – übernahmen während des Balkankriegs in den 90 er, Serben oder Kroaten den Kiosk. Oft musste ich mehrere Minuten warten, bis irgendeiner aus dem Hinterzimmer sich nach vorn bequemte, mir recht gleichgültig oder widerwillig eine Zeitung andrehte. Die sogenannten Verkäufer wussten nicht einmal, welche Zeitungen sie im Angebot hatten oder wie teuer eine solche ist, bis ich ziemlich genervt zum Zeitungs- und Buchladen Ahmet in der Wrangelstraße wechselte, wo sich heute ein vietnamesisches Restaurant „New Friends“ befindet …
Nach 2 Monaten schloss zu Recht dieser mysteriöse Laden und ich habe den schweren Verdacht, er wurde nur zum Schein geführt, denn im Hinterzimmer trafen sich viele absonderliche Männer, wahrscheinlich eine Art serbischer oder kroatischer Geheimbund, um ihre neuen „Feinde“ zu bekämpfen, die früher wie sie selbst Jugoslawen, Freunde oder Verwandte waren.
Ein Internetcafé löste diesen rätselhaften Kiosk-betrieb ab, bis Internetcafébetrieb keinen Gewinn abwarf …
Anschließend probierten sich bis ca. 2007 erfolglos ein paar Kneipenbesitzer aus, aber – die Lübbener Straße war schon früher eine Sackgasse, die Sonne ließ sich selten blicken, die Bäume waren noch nicht so hoch, die Zeit war eine andere – und nicht nur die Menschen am Heckmannufer oder Taborkirche kannten nur die Shell-Tankstelle weiter vorn, aber nicht die unscheinbare Lübbener Straße – bis Sascha Kvartira 62 eröffnete.
Kvartira heißt auch 62, weil die Postadresse Skalitzer Straße 62 ist, die Kneipe sich aber ausschließlich in der Lübbener Str. befindet. Deswegen findest du die Straße im Adressbuch oder Internet nur unter Lübbener Str. 18.
Neben dran, offiziell dasselbe Gebäude mit derselben Hausnummer befindet sich der Armyshop. Und noch was: Vor dem Armyshop steht seit einem Jahr drei mal die Woche Jürgen, der Gemüsebauer aus Brandenburg, nachdem er wegen dem ziemlich neuen Café mit der ziemlich grünen Farbe – die Straßenseite wechseln musste. Und im Armyshop war früher bis Ende oder Anfang 1990 das Eisenwarengeschäft Büttner. Da konnte man tatsächlich Schrauben oder so was ähnliches kaufen und musste nicht extra zum Baumarkt am Hermannplatz
fahren …
Die Neue Zeit – im Wrangelkiez
Irgendwo, vor nicht allzu langer Zeit in einem Café in der Wrangelstraße, war ein junger Mann. Er hatte im linken Ohr einen Stöpsel und im rechten Ohr hatte er auch einen Stöpsel. Er lief den schmalen Gang nach hinten und den schmalen Gang von hinten nach vorn und sprach mit sich oder mit den Stöpseln. Die Menschen im Café waren voller Dankbarkeit, endlich mussten sie keine Gespräche mehr führen und die Zeitungsleser mussten nicht die schlechten Nachrichten aus aller Welt lesen, sondern hatten das ausschließliche Vergnügen dem aufgeregten Mann zu lauschen. Lauschen ist vielleicht nicht der richtige Ausdruck, denn der Mann sprach ein lautes und akzentfreies deutsch. Diese Form der Kommunikation beflügelte eine Frau am begehrten Fensterplatz und sie probierte mit ihrem Smartphone ein ähnliches Kommunikationsmuster aus. Derart beglückt von dieser Art der Unterhaltung zückte ich mein Uraltnokia-Handy aus dem letzten Jahrtausend, bewegte mich zum Tresen und gab auf dieselbe Weise meine Bestellung auf. Die freundliche Bedienung fand diese außergewöhnliche Bestellform sehr fesselnd, so dass sie vor Begeisterung anfing zu lachen. Es dauerte nicht lange und alle fingen an im Raum zu lachen und kommunizierten auf dieselbe Weise. Wer kein Handy hatte, unterhielt sich mit dem Zuckerstreuer. Spielverderber war leider der Mann mit den 2 Ohrstöpseln, er flüchtete leicht enttäuscht – aus dem Raum …
MEIN NACHBAR – DER GÜLÜM (1995)
Die Lübbener Straße ist eine Sackgasse, sie ist ruhig – außer es spielt Galatasaray gegen Fenerbahce Istanbul … Nach jedem Tor ist die Hölle los und Leuchtraketen und Böllerschüsse erfüllen die Nacht und die Nachbarn im Haus sind um die Ruhe oder den Schlaf gebracht. 5. Stock, Ofenheizung, das Schlafzimmer und die Küche haben ein Fenster zum Hinterhof. Seit geraumer Zeit schwingt ein lästiges Hausantennenkabel im Küchenfenster. Alle Versuche – auch das Kabel mit einem Besenstiel zu entfernen – scheitern kläglich, es kommt immer wieder zurück.
Mein Nachbar gegenüber ist ein „richtiger Berliner“, schon seine Urahnen kommen aus Berlin und waren vermutlich die ersten auf der Fischerinsel. Er ist nachweislich kein Schwabe, Bundeswehrflüchtling und wahrhaftig kein flüchtiger, freischaffender Künstler. Er wohnt seit der Geburt, wahrscheinlich schon immer im Haus und im Kiez. Nicht nur seit er Frührentner ist, ist Meckern und Streiten sein Beruf. Er liebt keine Menschen, keine Nachbarn, sondern nur seinen Hund, aber der ist leider vor 2 Wochen gestorben. Mit Lust und Leidenschaft schaut er mit einem Fernrohr in die gegenüberliegenden Fenster der Zugezogenen. Einmal hing ein großes Transparent am Nachbarhaus: „Hör auf zu glotzen, du Spanner“, seiner Frau war das sehr peinlich.
Bierbäuchig, schweißtriefend mit Herzproblemen, kommt er die 5 Treppen hoch geschlichen und begegnet mir im Hausflur. Ich frage den Alteingesessenen, wem das Antennenkabel im Küchenfenster gehört. Das war ein Fehler, denn jetzt ist er in seinem Element und rät mir mit einer großen Gartenschere – das Ungeheuer zu erledigen. Für sozialpädagogische Bedenken hat er wenig übrig, nur einen abfälligen Spruch – „Körnerfresser! “ Seine Wut gegen alle Spinner, die ihm sein Kreuzberg madig machen, bricht sich Bahn, worauf ich mir ernsthaft Sorgen mache, ob er die 5 Jahre bis seine Frau Rente erhält, noch im Haus überleben wird. Aber dann – will er mit Frau – endlich raus ins Umland, in den Speckgürtel.
Einen Stockwerk tiefer wohnen Freunde, wo ich jederzeit eine Zigarette rauchen kann. Manchmal brennt die Zigarette, bei lebhaft munteren Gesprächen, feuchtfröhlich, bis in die frühen Morgenstunden. Das findet der Nachbar mit Herzproblemen nicht so gut und beginnt wie ein Rumpelstilzchen im Schlafzimmer auf und ab zu hüpfen oder zu schreien …
Gute Nachbarn im Haus sind Freunde und gießen Blumen, heizen die eiskalte Wohnung, bevor ich aus dem Urlaub zurückkomme – und haben meinen Schlüssel. Das ist wichtig, denn ich habe die lästige Angewohnheit die Wohnung ohne Schlüssel zu verlassen … Aber was nützt ein Schlüssel bei Freunden, wenn du einen, deinen Schlüssel brauchst. Mein Nachbar gegenüber hat nicht meinen Schlüssel, ist aber da und hat – wichtig – eine Zange und einen Schraubenzieher. Schon im Türguckloch erkennt er das Problem und überreicht wortlos grinsend das, was Mann so braucht …
Mein Schlafzimmer hat eine gemeinsame Außenmauer mit dem Hinterhaus. Da in all den Jahren keine Geräusche oder Gesprächsfetzen nach vorne drangen, dachte ich, wo kein Laut, kein Lärm ist, ist nichts!
In dieser Zeit lernte ich A. kennen. Wir liebten uns auch in den frühen Morgenstunden. Als einmal die Liebe sehr laut war, hörte ich, erst kaum vernehmbar, dann immer deutlicher, heftige ülülülülü – Geräusche aus einer Richtung, wo sonst das Nichts war. Am Anfang, vom gemeinsamen Glück überwältigt, wollten wir diese fremden Laute ignorieren – aber das Klopfen gegen die Wand wurde lauter, aggressiver und hatte letztendlich nur die eine Botschaft: „Schluss – hört auf mit der „Schweinerei“ ! Wir hatten einen Nachbarn, wahrscheinlich türkischer Herkunft ! Wir waren nicht glücklich, eher traurig, denn wer will am Gipfel der Gefühle schon unterbrochen werden … Dieser Ablauf wiederholte sich in den nächsten Tagen und Wochen. Jedes Mal, wenn die Lust am größten, folgte drüben auf der anderen Seite der Mauer ein Schreien und Klopfen, das sich wie eine Welle vor dem entscheidenden Elfmeter verdichtete. Ein erbitterter Kampf von unterschiedlichen Energiefeldern nahm seinen Lauf.
Hinter der Mauer lauerte offenbar ein missgünstiger, strenggläubiger Mann mit langen Bart, der „böswillig“ die Lust und die Liebe auf der Seite des Glücks bekämpfte. Ich geriet mehr und mehr zwischen den Fronten, denn A. warf mir vor, ich würde ihm zu liebe die heilige Liebe verraten. Mein Mitgefühl und eine tief im Unterbewusstsein wirkende protestantische Erziehung, „liebe deinen Nächsten und den Schlaf deines Nachbarn“, geißelte sie als billige Ausrede.
In dieser fast ausweglosen Situation, begann ich meine Strategie zu ändern, – ich versuchte den Nachbarn nicht nur zu verstehen, sondern zu lieben! Aus den immer wiederkehrenden „ülülülülü-Geräuschen“ formte ich intuitiv das Wort „Gülüm“. Gülüm, Gülüm, Gülüm rief ich, es ist Liebe – bitte, bitte, bitte, schenk uns ein bisschen Zeit für die heilige Liebe ! … Gülüm wollte nicht hören, auch nicht verstehen – und klopfte unerbittlich weiter. Aber irgendwann begann A. zu lachen …
Eines Tages klingelt ein freundlicher Mann an meiner Wohnungstür, er ist mit Fernseher und Familie ins Vorderhaus umgezogen und hat ein schlechtes Gewissen: sein neues Antennenkabel pendelt in ein Fenster meiner Nachbarn im 4. Stock. Kein Problem, sage ich – das sind Freunde und ich besitze ihren Schlüssel.
In der Wohnung umfasst er mich in luftiger Höhe über der Fensterbrüstung – ohne Netz – und die Straße – gefährlich weit unten, aber mit viel Geschick und viel Glück erwischen wir das Kabel, schwingen gemeinsam im Takt und schleudern es weg. Vor lauter Begeisterung reift eine tolle Idee … wir beide könnten … oben … bei mir …
In der Küche oben gesteht er kleinlaut: „Das ist mein Kabel.“
„Weil ich ein Körnerfresser bin,“ hängt hier sein Kabel.
Mit einer großen Schere will er das Kabel erledigen.
Listig schaut er mich an und fragt: Wo ist Frau?
Frau? – ach du meinst Freundin?
Was du hast keine Frau – aber wo sind Kinder?
Ich habe keine Kinder …
Jetzt sprudelt es aus ihm heraus: Was, keine Frau und keine Kinder – ich muss früh in Schicht arbeiten und du machst – in der Nacht – immer immer Kinder – und vollführt jetzt eindeutige Hüftbewegungen nach vorne …
Ach – du – bist – Gülüm – vor mir steht der Gülüm!!
Wir lachten und verstanden irgendwie einander. Beim Abschied dreht er sich im Hausflur noch mal um und fragt: Und du hast wirklich keine Kinder ?
PS: Diese Geschichte erzählte ich damals einem Freund mit türkischer Herkunft. An einer Stelle hielt er inne und wunderte sich …Weißt du – Gülüm übersetzt auf deutsch heißt:
MEINE ROSE und es gibt ein GÜLÜM – Fest in der Türkei, das ist so was wie der Valentinstag in Deutschland.
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Es lebt aber, wie ich an allem merke, in Berlin ein so verwegener Menschenschlag beisammen … dass man Haare auf den Zähnen haben und mitunter etwas grob sein muß, um sich über Wasser zu halten. Johann Wolfgang von Goethe 1823
Die Blumenläden und die Wrangelstraße
Der Wrangelkiez liegt zwischen Oberbaumbrücke und Görlitzer Park, beginnt mit dem südlichen Teilstück der Skalitzer Straße und erstreckt sich auf Höhe Lübbener, Wrangelstraße und Nebenstraßen bis zur Taborkirche. Alteingesessene und zugezogene Geschichtsforscher wissen, hinter der Skalitzer und hinter der roten Verkehrsampel gibt es noch eine Wrangelstraße, die in den Mariannenplatz mündet. Einmal im Jahr – wenn Maifest ist, pilgern viele Menschen auf dieser Straße vom Wrangelkiez bis zum Mariannenplatz. Direkt hinter der Hochbahn war drüben früher eine Kaserne. Kaserne und Straße wurden wie viele Kiezbewohner wissen, nach Generalfeldmarschall Friedrich Heinrich Ernst Graf von Wrangel benannt und Ironie der Geschichte ist, viele junge Männer aus dem Westen der Republik flüchteten früher wegen Bundeswehr und Vaterland in einen Kiez, der nach einem preußischen Generalfeldmarschall und Haudrauf bezeichnet wird. Heute ist in der Wrangelkaserne ein Oberstufenzentrum für Berufsschüler. Schräg gegenüber auf dem Gelände der ehemaligen Kaserne ist seit ein paar Jahren McDonalds. Die meisten Leute vom Wrangelkiez mögen McDonalds nicht, aber einige Berufsschüler – zumindest in der Mittagspause. Früher waren dieselben im Pizza Amore bei Gino in der Wrangelstraße drüben im Kiez. Gino heißt eigentlich Mohammed und kommt nicht aus Italien, wie viele Besucher oder italienische Touristen dachten. Sie quälten Gino solange mit italiano, bis er einräumte, er kommt aus Marokko. Gino hat wegen McDonalds jede Menge Berufsschüler verloren, die Hälfte seiner Kundschaft. Der Vermieter von Gino hat das falsch verstanden und die Miete nicht halbiert, sondern verdoppelt. Das war Gino mit seiner verrauchten Pizzastimme ein bisschen zu viel …
Schräg gegenüber ist „Sofia“ und ein wenig weiter „Papier und Spiele“, und wenn wir noch ein paar Schritte weitergehen, gelangen wir ins „Blumenparadies“ von Anneliese. Das Geschäft gibt es seit 36 Jahren, so lange wie ihren Sohn. Sie kennt sich mit Blumen und Wetter aus, denn sie kommt vom Land. „Wenn du in den Himmel schaust, weißt du wie das Wetter wird. Die jungen Leute von heute schauen nicht nach oben, sondern nur nach unten – auf ihre smartphones und wischen. Neulich war einer da, der wollte 3 Blumen. Ein Blume kostet 1 Euro fuffzich, da tippt der 3 mal einsfuffzich in sein Gerät … Also so was – das gab es früher nicht – kann nicht mal kopfrechnen.“
Schräg gegenüber, etwas weiter vorn, war der Blumenladen von Gisela.
Gisela hatte 2 kleinwüchsige Söhne und irgendwie auch einen Mann.
Obwohl selbst sehr klein, hatte sie eine große Berliner Schnauze mit Haaren auf den Zähnen und sie war laut. Da konnten sich einige Zugezogene eine Scheibe von abschneiden !
Sie hatte die üblichen und verdächtigen Blumen mit Grünzeugs drum herum und zu Silvester und Neujahr gab es – große Überraschung hin und her – einen Schornsteinfeger mit vierblättrigem Kleeblatt. Gisela war nicht „begeistert“, wenn du mit Fingern irgendeine Blume berührtest. Einmal zog ich aus einem Wasserkübel einen Blumenstrauß heraus – das war ehrlich gesagt eine Katastrophe – für Gisela ! Wie von der Tarantel gestochen, riss sie mir die Blumen aus den Händen, steckte sie wieder in den Kübel, nahm sie wieder heraus, drückte sie mir in die Hand und schrie: „Mach das nie wieder ! “ Ich machte das nie wieder und eigentlich wollte ich nie wieder in ihren Laden … Aber sie stand wie Napoleon oft draußen und beherrschte auf dem Bürgersteig mit Adlerblick die Wrangelstraße. Die Straßenseite wechseln – sinnlos – sie hatte eine Stimme wie ein Feldwebel, sie reichte hinunter bis zur ehemaligen Kaserne und – was soll´s Gisela gehörte zum Kiez …
Irgendwann war der Laden geschlossen. Erst dachte ich, sie macht Urlaub, aber Gisela machte nie Urlaub … Gisela kam nicht zurück vom „Urlaub“, der Laden blieb dicht.
Eines Tages sah ich sie wieder – in einer Begegnungsstätte für Menschen mit Behinderungen in Friedrichshain. Sie saß im Rollstuhl mitten im Raum, umringt von RollstuhlfahrerInnen und führte rein akustisch das Regiment. Als sie mich sah, schrie sie freudig erregt aus Leibeskräften und deutete mit den Fingern auf mich: „Das war mein bester Kunde …“
Ein bisschen geschmeichelt fühlte ich mich schon, aber ich wusste, sie übertreibt mal wieder maßlos. Ich revanchierte mich: „Gisela“ sagte ich vor all den Leuten, „hatte den besten Blumenladen im ganzen Wrangelkiez“ und alle im Raum schauten respektvoll auf sie. Gisela freute sich wie eine Schneekönigin und ich glaube – in diesem Moment hätte ich auch einen Blumenstrauß aus dem Wasserkübel ziehen dürfen …
Nachtrag zu Generalfeldmarschall Friedrich Heinrich Ernst Graf von Wrangel und Wrangelkiez:
Die Bezeichnung Wrangelkiez für das Schlesische Viertel kam erst in den 1980er Jahren auf und ist aus heutiger Sicht unglücklich gewählt. Zum einen liegt hier nur der kleinere Teil der namensgebenden Wrangelstraße. Zum anderen marschierte General Friedrich von Wrangel im Jahr 1848 gegen das revolutionäre Berlin, verhängte das Kriegsrecht über die preußische Hauptstadt und machte der Revolution ein Ende.Die Revolutionäre hatten noch vorher gedroht, seine Frau aufzuknüpfen, falls Wrangel in die Hauptstadt einrücken würde. Er nahm auf seine Frau keine Rücksicht und beim Durchqueren des Brandenburger Tores, soll er zu seinem Adjuntanten gesagt haben: „Ob se ihr jetze woll uffjehangen haben?“
Die Revolution war niedergeschlagen, Frau von Wrangel dagegen wurde kein Haar gekrümmt …
Seit über 3 Monaten heißt der ehemalige Wrangelkiez – Bizim Kiez – und das ist auch gut so !
Sehr interensanter Report…sehr aufschlussreich und typisch vom Kiez
Eine kleine Anmerkung zu dem Bild zur Geschichte von der Krähe im Görlitzer Park: da sitzt dieser wunderbare, etwas verärgerte schwarze Vogel auf der Rückenlehne einer Parkbank und zetert vor sich hin. Verhinderte Mörderin, wie erzählt. Ja, aber in Berlin gibt es diese schwarzen Vögel nicht. Sie, die Rabenkrähen, leben in Deutschland nur westlich der Elbe. Bei uns haben die Nebelkrähen ihr Zuhause, also die mit den grauen Flügeln. Dass das so ist, ist ein bewundernswertes Phänomen, finde ich. Die anderen schwarzen Vögel sind entweder kleiner und damit Dohlen, oder wesentlich größer und damit Kolkraben.
Wenn man sich beim Schreiben von Geschichten auch dahingehend Mühe gibt, dass Einzelheiten stimmen, wird man, glaube ich, der Sache, den Menschen, dem Kiez usw. wohltuend gerecht.
Freundliche Grüße von einem Menschen, der vor etwa 30 Jahren viel als Schlosser auf dem ehemaligen Görlitzer Bahnhof zu tun hatte und seither diese weite freie Fläche liebt.
Tilman