Bericht vom Treffen mit osteuropäischen JournalistInnen und anschließender Kiez-Versammlung
Es ging um Politik von unten. Um Bürgerbewegung in einem demokratischen Land.
An diesem Nachmittag ging es um Bizim Kiez, was übersetzt „unser Kiez“ heißt, als Beispiel für eine Anwohnerprotestinitiative, welche sich nach der Kündigung des Gemüsehändlers Ahmed Çalışkan im Wrangelkiez zum 15. Mal am Mittwoch auf der Wrangelstraße versammelt.
16 junge JournalistInnen, im Alter von 22 bis 38 Jahren, erschienen am 2. September 2015 in der Kantine des Kerngehäuses in der Cuvrystr. 20–23. Moderiert wurde die Veranstaltung von dem Journalisten Peter Liesegang in Verbindung mit der Pantherstiftung der TAZ, finanziert vom Auswärtigen Amt und anderen Stiftungen. Von 400 BewerberInnen wurden 16 JournalistInnen ausgewählt. Alle erhielten ein Visum.
Im Kreise eines reich gedeckten Tisches mit Weintrauben, Bananen und Melonen von Ahmeds Gemüseladen und anderen Leckerein empfingen vier Frauen von Bizim Kiez – Heba, Gabriela, Gloria und Trude – unsere weit hergereisten Gäste. Ahmed kam später noch dazu.
Als sich die jungen Menschen mit Namen vorstellten und sagten, aus welchen Ländern sie kommen, trieb es einer der Frauen von Bizim Kiez vor Freude die Tränen in die Augen: Russland, Belarus (Weißrussland), Aserbaidschan, Moldau, Armenien, Ukraine, und Georgien …
Auf unterschiedliche und einzigartige Weise beantworteten die vier Frauen von Bizim Kiez die Fragen der Teilnehmer und Teilnehmerinnen, welche sehr diszipliniert, interessiert jedoch auch müde wirkten. Kein Wunder! Nach Angaben von Peter L. seien sie zum ersten Mal in einer westlichen Stadt wie Berlin und würden auch in der Nacht neugierig umherstreifen, unendlich viele Eindrücke wahrnehmen, erforschen, sich treiben lassen von Unbekanntem und Neuem.
Ihre Fragen und unsere Antworten bezogen sich auf die Entstehung und die Ursachen der Bizim Kiez Bewegung, auf unsere Perspektiven, auf bestehende Gesetze, Gesetzeslücken und mögliche Gesetzesreformen, Unterschiede und Gemeinsamkeiten. Auf Respekt und friedliche Kommunikation trotz unterschiedlicher Meinungen, um Einheit in der Vielfalt. Deutlich wurde unsere herzliche Verbundenheit untereinander rund um Ahmed Çalışkan.
Weiter ging es um Macht, welche destruktiv und negativ benutzt werden kann, jedoch auch um Macht, als schöpferische Macht. Auch um Mietermacht. Dass Macht an sich neutral und nicht zwangsläufig schlecht ist. Ähnlich wie ein Küchenmesser an sich neutral ist, jedoch unterschiedlich benutzt werden kann, zum Gemüseschneiden oder destruktiv zum Töten.
Auch wollten die JournalistInnen wissen, ob wir uns nur gegen etwas oder auch für etwas engagieren würden und welche Chancen wir hätten, wie die Zusammenarbeit mit staatlichen Stellen sei, ob wir weitermachen würden, auch wenn wir scheitern würden, ob es viele vergleichbare Bürgerbewegungen in Deutschland gäbe etc.
Wir zeigten ihnen die an den Wänden hängenden Plakate. Die Dolmetscherin übersetzte auf Russisch unsere Forderungen: „Für den Erhalt der Nachbarschaft im Wrangelkiez! Wir sind die Straße! Unsere Stadtkieze, unsere Würde, unsere Zukunft! Anwohnerbedürfinisse verwirklichen nicht Investorengier!“
So ging es um Bizim Kiez, aber auch um Tiefgehenderes, Persönliches und Politisches und Philosophisches. Um Bürgerbewegung und um Zivilcourage, um Empörungsenergie, die sich verwandelt in Handlungskraft und gemeinsame Kooperation und Kreativität, um etwas Neues zu erschaffen … Auch, dass die Zeit reif ist für Veränderung! Für ein neues Bewusstsein zum Schutz unserer Umwelt, unserer Flüsse, Ozeane, Ressourcen, wo überall auf der Welt ähnlich privatwirtschaftliche destruktive Strukturen am Zerstören sind … Eine Teilnehmerin aus Moldavien sagte, sie kenne ähnliche soziale Verdrängungsprozesse und Konflikte, habe jedoch noch nie von so etwas wie Bizim Kiez gehört. Sie sei sehr berührt und inspiriert und unterhielt dich hinterher noch angeregt auf türkisch mit Ahmed Çalışkan.
Nach unserem sehr authentisch, sachlich und auch emotional von Seele zu Seele gesprochenen und verstandenen Antworten und Redebeiträgen mit fühlbar entstandener menschlich warmer Verbindung zwischen uns und allen Gästen, klatschten diese alle spontan und begeistert.
Im Anschluss an die Versammlung fand die Kundgebung auf der Wrangelstraße vor Bizim Bakkal statt, wo wir unsere Gäste ankündigten. Viele WrangelkiezanwohnerInnen freuten sich. Trotz ihrer Müdigkeit blieben die osteuropäischen Gäste bis zum Schluss. Sie wurden Zeugen einer weiteren wunderbaren politischen und kulturellen Veranstaltung unseres Bizim Kiez „Sommermärchens“.
Eine türkisch-kurdische Folklore Gruppe tanzte, einige der osteuropäischen JournalistInnen tanzten spontan im Kreise auf der Strasse mit!!! Begegnung schafft Völkerverständigung!
Danach spielte die Beatboxmusicalgruppe Razzz! Genial und verblüffend kreativ, denn sie waren in der Lage die Musik nur mit ihren Mündern und Körpern zu produzieren.
Das Motto der türkischen Gruppe gegen Ende des Abends war auch Abbau von Vorurteilen durch Tanz, Musik und Begegnung. Sie spielten so vehement und leidenschaftlich emotional. Dass zeitweilig 50 bis 80 junge und alte AnwohnerInnen auf der Wrangelstraße miteinander tanzten.
Nach der Veranstaltung gegen 22 Uhr am Abend bildete sich eine kleine Schlange von osteuropäischen JournalistInnen, um sich mit Handschlag zu verabschieden, zu bedanken und sichtlich bewegt, berührt, inspiriert uns ihre Anerkennung für die Veranstaltung und Bizim Kiez auszudrücken.
Wir werden von Ihnen hören!
– Bericht geschrieben von Gabriela Stangenberg