„Ich muss kämpfen, ich will weiterarbeiten!“ – Die Geschichte von Hassan Qadri und seinem Laden »Kamil Mode«
Ein Stück neuköllner Textilwirtschaft soll gehen
Hassan Qadri ist ein Mann mit einem stechendem Blick hinter schwarzer Hornbrille. Seit 2002 führt er sein Geschäft für Bekleidung »Kamil Mode« am Kottbusser Damm 9, auf der westlichen Seite der belebten Verbindungsstraße von Neukölln und Kreuzberg 36. Wie viele kleine, Inhaber*innen-geführte Läden in Berlin ist er in Gefahr: der Eigentümer Thorsten Cussler hat ihm nach 16 Jahren gekündigt, weil er mit dem Gewerberaum etwas Anderes vor habe. Den Laden, in dem vor allem Kund*innen aus türkischen und arabischen Communities einkaufen, hat Qadri mit harter Arbeit und gutem kaufmännischen Instinkt langsam aufgebaut. Obwohl auf der kreuzberger Seite des Kottbusser Damms gelegen, ist »Kamil Mode« Teil des fast vergessenen Textilwirtschafts-Kosmos, der Nord-Neukölln mal gewesen ist: der Kiez war voller Stoffgeschäfte, Schneidereien, Klamottenläden und den Studios kleiner Mode-Designer*innen, wovon das noch heute existierende “Netzwerk Mode & Nähen Neukölln“ zeugt. Qadris Laden läuft nicht schlecht. Er hat es geschafft, sich eine konstante Kund*innenschaft zu erhalten, mit der er ein gutes und vertrauensvolles Verhältnis pflegt. Ein kleines wirtschaftliches Ökosystem, dass er über die Jahre auf die Bedürfnisse seiner Klientel angepasst hat, sichert die Existenz des 60jähren und seiner Familie. In fünf Jahren plant er, in Rente zu gehen, aber die Zeit bis dahin wird nun durch den Hauseigentümer mit Unsicherheit getrübt: Der will den Laden verdrängen. Aber mit 60 noch einmal neu zu starten, dass erscheint auch dem noch ziemlich jung und kraftvoll wirkenden Hassan Qadri nicht machbar. Und dass, obwohl er weiß, was Neuanfänge und harte Arbeit bedeuten.
Aus Pakistan nach West-Berlin
Hassan Qadri floh mit Anfang 20 aus Pakistan. Dort hatte sich 1977 der General Mohammed Zia-ul-Haq an die Macht geputscht, und 1979 die Verhaftung und Hinrichtung des populären, abgesetzten demokratischen Präsidenten Zulfikar Ali Bhutto veranlasst. Anfang der 80er Jahre, in dieser dunklen Epoche der Geschichte Pakistans, in der auch viele Student*innen an den Universitäten inhaftiert wurden, kam Qadri in die Bundesrepublik Deutschland, und beantragte Asyl. Er verbrachte zunächst 3 Monate in West-Berlin, und bekam dann in Westdeutschland eine Wohnung zugewiesen. 1983 kam er aus Berghausen, Nordrhein-Westfalen, zurück nach Berlin, weil sich hier leichter Arbeit finden ließ. Bei der Textilgruppe Bob in der Bergmannsfraße, begann Hassan Qadri’s Karriere in der Textilbranche. Die Arbeit im Dreischichtbetrieb war hart, und zwei Jahre später schaute er sich nach etwas Anderem um. 1985 wurde er in einer Holzfabrik in der Nobelstraße im Süden Neuköllns angestellt, wo er bis 1992 arbeitete, als die Fabrik schloss, und er arbeitslos wurde. Darauf verschlug es ihn zurück in die Textilwirtschaft, diesmal aber in den Großhandel: er begann bei »Datamode« in der Gneisenaustraße, und wechselte nach drei Jahren zum indischen Großhandel »Minhas« nach Marzan an die Rhinstraße, wo verschiedene große Textilhändler*innen in Hallen untergebracht waren. Dort blieb er, bis das Geschäft Anfang der 2000er schloß, und er wieder ohne Arbeit war. Beim Arbeitsamt wurde ihm, wie vielen Anderen zu der Zeit auch, das Programm der “Ich-AG“ nahegelegt: er solle sich mit seiner Erfahrung im Textilbereich selbständig machen, und wenn er es nicht schaffen sollte, könne er nach drei Jahren erneut vorsprechen, um Arbeitslosengeld zu beantragen. Das war der erste Schritt auf dem Weg zum eigenen Laden am Kottbuser Damm.
Der eigene Laden in Neukölln: „Machen wir 700, dann gucken wir…“
Wie stellt man die Gründung eines Gewerbes an? Hassan Qadri schaute sich erst mal in seiner Nachbarschaft um. Er wohnte damals in der Friedelstraße im Reuterkiez, und auf einem etwas weiteren Spaziergang fand er am Kottbusser Damm ein Textilgeschäft, das von einem Inder geführt wurde. Der Laden lief nicht gut, der Inhaber war unzufrieden, und Qadri witterte seine Chance. Die zwei Männer wurden sich recht schnell einig: Hassan Qadri half dem Betreiber, zwei Monatsmieten, die dieser in Verzug war, zu begleichen, und im Gegenzug schlug dieser Qadri bei der Hausverwaltung als seinen Nachmieter vor. Es wurde ein neuer Mietvertrag auf seinen Namen geschlossen. Der Mietpreis: 770 Euro für offiziell 61 Quadratmeter. Das schien doch ein wenig viel, denn Quadri musste sich erst noch etablieren. Es war eine Zeit, in der kaum jemand nach Neukölln ziehen wollte, und mit Hauseigentümer*innen ließ sich durchaus über die Miethöhe reden. Es kam zum Deal – „Ok, machen wir 700, und dann gucken wir…“ – und Hassan Qadri war Gewerbetreibender im Textilgeschäft.
In den Kiez geschaut, die Bedürfnisse der Bewohner*innen gesehen
Nun begannen andere Herausforderungen. Wie baut man einen Laden wieder auf, der schlecht läuft? Hassan Qadri blickte erneut in seinen Kiez, er schaute sich den unbeliebten Kottbuser Damm an, die Wohngegend drumherum, die Läden, die Menschen… Er fragte sich: Was brauchen sie? Was für eine Kundschaft kann den Laden erhalten? Es ging darum, das Sortiment zu führen, das für die Umgebung richtig war. Nord-Neukölln war und ist eine Nachbarschaft mit sehr vielen türkisch- und arabisch-sprachigen Einwohner*innen. Viele von ihnen kauften einfache, angenehme, funktionelle Kleidung. Die Frauen brauchten Kopftücher und mochten weite Schals. Da bestand im Angebot der großen Modeketten eine Lücke. Hassan Qadri entdeckte aber noch mehr, vor allem für türkische und arabische Frauen: Abendkleider waren zwar sehr beliebt, aber manche Stellen die z.B. den Rücken und die Schultern offen ließen, mussten verdeckt werden, ohne, dass der Charme des Kleides verloren ging. Das erforderte Selbstinitiative und Kreativität bei der Modifikation der Kleider. Und schließlich fand Qadri seine ganz spezielle Kundinnengruppe: Frauen, die Übergröße trugen, z.B. Größen 48-60. Es stellte sich heraus, dass sie sich bei deutschen Händler*innen und Geschäften nicht wohl fühlten. Es ließ sich kein Vertrauensverhältnis aufbauen.
»Kamil Mode« entsteht
All das sah Qadri, und stellte das Sortiment seines Ladens entsprechend ein. Er schaute sich die Auswahl an T-Shirts bei Karstadt am Hermannplatz an (die z.B. zur Modifizierung von Ballkleidern genutzt wurden) und bot mehr Farben an als der Großhandel. Dasselbe machte er für Schals und Kopftücher. Und er begann Übergrößen in Frauenmode anzubieten, z.B. Röcke. Langsam sprach sich das auf der Straße herum. An den Kottbusser Damm kamen Kund*innen aus der ganzen Stadt, um Kleidung und Textilien einzukaufen. Und wenn z.B. »Mode Cel« am Kottbuser Damm 90 eine bestimmte Farbe nicht führte, wurden sie zu Hassan Qadris »Kamil Mode« geschickt. Dasselbe tat die arabische Boutique direkt neben dem Laden bei Kopftüchern. Und auch vom wöchentlichen Markt am Maybachufer wurden Kunde*innen zu Qadri geschickt, wenn sie dort nicht fündig wurden. Und so entstand ein treuer Kund*innenstamm über die Grenzen des Kiezes hinaus. Bis heute kommen aus ganz Berlin die Kund*innen von Hassan Qadri, um bei »Kamil Mode« einzukaufen.
Die Kündigung
Mitte Juli dieses Jahres kam der Hauseigentümer, Thorsten Cussler, in den Laden. Schon befürchtete Qadri eine Mieterhöhung, nachdem er bereits zwei akzeptiert hatte, 2013 auf 1.000 Euro und 2017 auf 1.200. Aber es sollte schlimmer kommen. „Gehen wir nach hinten“, sagte Cussler. Dort eröffnete er dem schockierten Qadri, dass er ihm kündige, und legte ihm das Schriftstück zur Unterschrift vor, mit der dieser sich zum Auszug bis zum 31. März 2019 verpflichtete. „Warum?“, fragt Qadri. Es solle renoviert werden. Ob er nicht nach der Renovierung wieder zurückkehren könne? Nein, danach werde der Gewerberaum zu teuer für ihn sein. Hassan Qadri konnte das nicht unterschreiben – wie sollte er in der jetzigen Situation in der Stadt bei seinem Alter etwas Neues finden? Er bat seinen Hauseigentümer um mehr Zeit. Dieser winkte ab, es gäbe genug Zeit bis März, und ließ die Kündigung da, als er »Kamil Mode« verließ.
Das Ende der Diskussion und noch eine Kündigung
Am nächsten Tag rief Qadri bei Thorsten Cussler an, um erneut für mehr Zeit zu bitten. Aber dieser blieb bei seiner Aussage: Die Miete werde nach der Renovierung zu teuer sein. „Wie teuer?“, fragte Hassan Qadri. „Über 3000 Euro“. Qadri war bestürzt. Er sagte dies seinem Hauseigentümer: Das ziehe ihm den Boden unter den Füßen weg, der Laden sei seine Existenz. Die Antwort des Immobilieneigentümers: Qadri solle nicht jammern! Diese Entscheidung sei nichts gegen ihn persönlich, sondern rein geschäftlich. Er habe genug Zeit, um sich nach einem anderen Gewerberaum umzusehen.
Nach ein-zwei Tagen traf Hassan Qadri Cussler zufällig in der Nähe des Ladens an. Er hatte sich das Ganze noch einmal in Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Tatsächlich wurde in Berlin alles teurer, aber die langjährige Geschäftsbeziehung müsste doch eine gute Gundlage dafür sein, sich zu einigen. Wie schon zuvor, ganz am Anfang, als Neukölln noch kein hippes und begehrtes Stadtviertel war. Vielleicht konnte man sich in der Mitte bei 1.500 Euro einigen? Vielleicht, wenn Qadri seinen Hauseigentümer darum bat, ihn noch bis zur Rente bleiben zu lassen, würde dieser einsichtig sein, und ihm entgegenkommen. Aber erneut eine Absage: Der »Kamil Mode« müsse gehen, Thorsten Cussler habe etwas Anderes mit dem Gewerberaum vor. Das war das Ende der Diskussion. Hassan Qadri stimmte mit dem Angebot zum Auszug bis Ende März 2019 nicht zu, und bekam wenig später die Kündigung zum 31. Dezember dieses Jahres.
Hassan Qadri gibt nicht kampflos auf
„Ich muss kämpfen, ich will weiterarbeiten!“, sagt Hassan Qadri heute. „Es ist schwierig geworden. Wenn ich den Laden verliere, kann ich meine Miete nicht zahlen.“ Qadri wohnt noch heute in Nord-Neukölln, einem Kiez, der rasant gentrifiziert wird, und wo die Mieten steigen. Der Betreiber des »Kamil Mode« hat sich an die Gewerbeinitiative OraNostra gewandt. Die Organisierung aus Ladenbetreiber*innen rund um die Oranienstraße ist seine einzige Hoffnung. „Was gerade in Berlin passiert, ist das reine Chaos! Ich weiß von einer Familie in der Hermannstraße, die nach 28 Jahren aus ihrer Wohnung geschmissen werden soll. Wir waren gemeinsam beim Neuköllner Stadtrat, aber der kann nichts machen. Aber wenn der Stadtrat nichts machen kann, wer dann? Wem gehört diese Stadt?! Die Hauseigentümer machen einfach, was sie wollen, sie sind wie entfesselt!“ Seinen Kund*innen hat er bereits von der Kündigung erzählt. Sie reagieren mit Unverständnis ob der Kompromisslosigkeit de Eigentümers, und unterstützen Qadi mit Unterschriften auf einer Liste, die er im Laden auslegt, und unsere online-Petition für den Verbleib des »Kamil Mode« ergänzt. Sie wissen: wenn »Kamil Mode« verdrängt wird, müssen auch sie woanders ihrenn Bedarf decken – eine Verdrängung von anwohner*innenversorgendem Kleingewerbe bedeutet immer auch eine Verdrängung von deren Kund*innen. Auch die anderen verbliebenen Kleingewerbetreibenden am Kottbusser Damm hat Qadri besucht, um von seinem Fall zu erzählen – und um aufzuklären. Angst davor, seine Geschichte öffentlich zu machen, hat er nicht. Im Gegenteil – er drängt geradezu zum öffentlichen Protest: „Ich will, dass das raus kommt, an die Öffentlichkeit, damit die Augen der Anderen geöffnet werden“, sagt er. „Heute ist es mir passiert, morgen aber passiert es bei 100 anderen mehr!“
Auf der Kundgebung der Gewerbeinitiative »OraNostra« am 17. November für den Oranienspäti sprach Hassan am offenen Mikrofon über seine Situation, solidarisierte sich mit Zekiye Tunç und rief die Politik zu mehr Hilfe für Kleingewerbetreibende auf.
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Wir haben in den 80er Jahren so unsere Erfahrungen mit Thorsten Cussler im Haus Kottbuser Damm 9 gemacht. Dieses Bild, wie er in seinen megateuren Klamotten seinem quer über den Gehweg des Kottbuser Damm geparkten Jaguar entstieg! (Oder wars ein BMW?) Um dann bei uns Bewohner*innen zu klingeln und uns sein Leid zu klagen, wie wenig er an uns verdienen würde! Anlässlich der nächsten formal mal wieder völlig falschen Mieterhöhung haben wir ihm dann ne Käsestulle per Brief geschickt – damit er nicht verhungert.
Das waren völlig andere Zeiten, für die meisten Menschen noch lange nicht so bitter wie heute. So konnten wir dem Ganzen neben allem andern durchaus auch noch was Komisches abgewinnen. Thorsten Cussler saß damals für die LFG im Stupa der TU, und man machte sich lustig über die geschniegelten Bürschchen in Anzug und Krawatte.
Für unsere Nachbarn allerdings war es schon damals bitterer Ernst, als Cussler die Familie nach der Geburt des vierten Kindes wegen Überbelegung der Wohnung auf die Straße setzte, anstatt ihr eine größere Wohnung in einem seiner Häuser anzubieten.
In dieser Zeit verkaufte der Bezirk seine letzten eigenen Wohnhäuser. Eins davon an einen Unternehmer, der daraus ein Hotel machte und die Zimmer einzeln an den Bezirk zurückvermietete, der darin Wohnungslose unterbrachte. Unsere Nachbarn wohnten dann bis zur Wende dort in drei kleinen Zimmern für zusammen über 3000,- DM im Monat.
Wenigstens waren sie so nicht mehr den besonders für die Kinder lebensgefährlichen sogenannten „Sanierungsarbeiten“ im Haus ausgeliefert – mit unisolierten Stromkabeln unter Spannung in Kinderspielhöhe („Na machen Sie doch ne Plastiktüte drüber!“), mit Putz und Stuck, der völlig ohne Absicherung runter in den Hof und auf die Straße flog („na meinen Sie denn, der fällt nach oben?!“) usw. usw.
Ich erinnere mich dunkel, dass es mal einen Ansatz einer Cussler-Vernetzung gab. Vielleicht lässt sich daran ja anknüpfen.