Der Kohlenträger in Kreuzberg

Neulich habe ich mir verwundert die Augen gerieben. Unten auf der Straße vorm Nachbarhaus steht ein Lastwagen mit Kohlen und Briketts obendrauf. Ein Kohlenhändler? Mein Blick schweift in die Ferne, anschließend um die Ecke und suche nach Scheinwerfer, Kameras, Statisten – und wo ist die Verpflegungsstation, denke ich? Nichts dergleichen, und dann sehe ich ihn: der Kohlenträger flitzt mit einer Kiepe los, randvoll beladen mit Briketts, schwarz und schneller wie der Schatten, und schon ist er im Hauseingang verschwunden.

Foto: Markus Heine

Früher – das ist nicht lange her, standen die Kohlenhändler in zweiter Reihe im Stau auf der Straße. Und früher waren die Winter im kohleofenbeheizten Kreuzberg kälter, länger und finster und der Geruch stank fürchterlich zum Himmel, der über die Braunkohlemauer aus dem Osten herüber flüchtete. Wer um diese Zeit Kohlen bestellt hat, war entweder arm oder arm dran, je später die Bestellung und Lieferung, umso teurer und brutaler der Winter.

Der Kohlenhändler war im tiefsten Winter König und der Kohlenträger ein wenig ein Gauner, sah aus wie ein Boxer, Catcher oder Knacki mit echten Tattoos auf dem Arm. Eine heimliche Strichliste über die Anzahl der Kiepen war notwendig und sicherlich angebracht. Einmal war alles richtig, so dachte ich glücklich, gab reichlich Trinkgeld, bis ich danach merkte, die Briketts aus dem Osten waren nur dreiviertel so groß wie die vom letzten Jahr.

Bei einer anderen Bestellung hatte ich ein mulmiges Gefühl, eine Tonne Brikette sollte hoch in die Wohnung, noch dazu in den 5. Stock und nicht wie sonst in den Keller. War nicht ganz erlaubt –  doch keiner fragte, denn Geschäft ist Geschäft, ich hatte Mitgefühl, es war früher Morgen, und  dann fiel noch der 2. Kollege aus! Trotz meiner Zweifel sagte der Eine, er packt das, gar keine Frage. Er sah nicht aus wie die Anderen, eher wie ein kenianischer Läufer mit Waschbrettfigur, war drahtig und fit wie ein Turnschuh und trank obendrein nur Kamillentee.
Bei einer kurzen Verschnaufpause zeigte ich Mitleid und er: „das ist noch gar nichts. Gestern, nur  Luftschutzkeller vom 2. Weltkrieg, die Treppen steil runter, die Decke beim Eingang verdammt niedrig, immer Kopf einziehen, sonst volle Kante gegen die Wand – o je  –   und dann ausgetretene Stufen, eingeschlagene, kaputte Fenster, feucht, voll Schnee und spiegelglatt der Boden und ich – ganz alleine – muss fünf  5 Keller schaffen in einer Frühschicht! …

Unglaublich, antwortete ich, mir wurde schwindlig, immer mehr schwindlig, bis irgendwann die Nachbarin von gegenüber, eine echte in 10. Generation gebürtige Berlinerin, hinter mir stand und ganz trocken mit echter Schnauze zum fleißigen Helden der Kohle sagte: „sie sind aber ein Sensibelchen!!“… In diesem Moment wusste ich, und musste fast lachen, das ist echter Berliner Humor!

Ernst Weltner

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