Pressemitteilung: Vermieter will dem M99 keine Zukunft geben, Mieter Lindenau steht vor der Zerstörung seiner Existenz

11.3.2016 – Berlin-Kreuzberg

Die Konfrontation im Fall HG/M99 spitzt sich zu. Bizim Kiez organisierte einen „Runden Tisch“ zwischen Vermieter und Mieter. Einziges Ziel dieser Vermittlung war es, einen Kompromiss auf der Grundlage zu verhandeln, dass Hans Georg Lindenau, als behinderter Mensch und als selbstständiger Ladenbetreiber, sein beeindruckend autonomes Leben fortführen kann. Dazu sollte – unterstützt von der Bezirksbürgermeisterin Herrmann und der Behindertenbeauftragten Ehrlichmann – erreicht werden, dass er in den von ihm in 30 Jahren auf seine Bedürfnisse zugeschnittenen Räumen bleiben kann. Obwohl Lindenau weitreichende Angebote machte, lehnte der Vermieter kategorisch ab. Er begründete dies damit, dass ihm von der Polizei geraten wurde, die Räumung zeitnah anzustreben. Der Vermieter forderte „ein friedliches und ruhiges Auseinandergehen, d.h. Herr Lindenau muss die Räume freiwillig verlassen“. Außerdem stellte sich der Vermieter mit seiner Familie als Opfer einer „Bedrohungslage“ dar, die von Unterstützenden von HG aufgebaut worden sei. Unterdessen wächst die nachbarschaftliche Solidarität mit HG Lindenau, insbesondere auch unter den Gewerbetreibenden Kreuzbergs, von denen viele selbst von extremer Mietsteigerung und Kündigung bedroht sind.

Licht an für Bizim Bakkal - Investoren heimleuchten. Unter diesem Motto fand am 11. November 2015 ein Laternenumzug durch den Kreuzberger Kiez statt. Eine Station des Umzugs war der von Räumung bedrohte Laden von HG Lindenau in der Manteuffelstraße 99.

Druckfähiges Bild bei Nennung der Quelle „Foto: Umbruch Bildarchiv“ – Bildmitte: Hans Georg Lindenau, rechts: Magnus Hengge > Download hier

Zum Hintergrund der Zuspitzung:

Dieses Geschäft kennen alle, die von sich behaupten Kreuzberger/in zu sein. Hans Georg Lindenau, allgemein nur HG genannt, betreibt seit 30 Jahren seinen „Gemischtwarenladen mit Revolutionsbedarf M99“ in der Manteuffelstr. 99. In dieser Zeit wurde das Haus samt HGs Laden acht Mal verkauft, aber der jetzige Eigentümer hat Pläne, in denen HG mit seinem Wohnladen keinen Platz hat. In langjährigen Prozessen konnte der Vermieter für einen Teil der Räume einen Räumungstitel erwirken, der seit dem 31.12.2015 vollstreckbar wäre. Seither hat die Nachbarschaftsinitiative Bizim Kiez intensiv nach einer Lösung gerungen, denn HG ist nicht nur eine Instanz als Kreuzberger Urgestein, sondern zudem behindert und auf den Rollstuhl angewiesen. In den Räumen des M99 hat er sich mit seinem Konzept des Wohnladens und mit Hilfe der aktiven Assistenz der Kundschaft so eingerichtet, dass er ein selbstständiges Leben führen kann und nicht auf Sozialleistungen angewiesen ist.

Vermittlung bei der Bürgermeisterin Herrmann eröffnete Chance

Vermittlung-Rathaus-HGM99-IMG_6831-smallBizim Kiez hat auf HGs Initiative hin beide Seiten an den „Runden Tisch“ bei Frau Herrmann, Bezirksbürgermeisterin von Friedrichshain-Kreuzberg, gebracht, wo zwei Gespräche im Abstand von zwei Wochen stattfanden. Beim ersten Gespräch wurden unter Anwesenheit des Vermieters „Angebote“ ausgetauscht, wobei eigentlich nur von HG ein Entgegenkommen vorhanden war. HG bot unter anderem an, sehr viel mehr Miete zu zahlen, rund die Hälfte der Wohnfläche abzugeben (1.OG), die Warenpräsentation an der Fassade abzubauen, auf eine Außentoilette zu verzichten und Umbaukosten zu übernehmen. Das einzige Angebot des Vermieters bestand in der Verlängerung der Frist, bis zu der HG raus sein muss, und einer lächerlichen Umzugsunterstützung von 5.000 €. Trotzdem war man nach der ersten Vermittlungsrunde soweit gekommen, die Angebote der Gegenseite zu überdenken und die Entscheidung zu vertagen.

Statt Kompromiss: Vernichtung der Existenz des Mieters

Zum Auftakt der zweiten Vermittlungsrunde, zu der diesmal nur Anwalt Wollmann erschien, machte dieser deutlich, dass man sich nur auf einen „freiwilligen Auszug von Herrn Lindenau“ einigen könne. Dies sei die einzig denkbare „friedliche und ruhige Lösung“. Sehr deutlich wurde daraufhin Frau Herrmann, die nochmals erklärte, dass eine friedliche Lösung bedeute, dass HG eine Zukunft im Haus haben müsse. Die vom Anwalt benannte Lösung sei hingegen die unfriedliche. Auch der Hinweis, dass hiermit die Existenz von Hans Georg Lindenau vernichtet wird, ließ den Anwalt völlig kalt.

HG hat keine Hoffnung auf eine Ausweichmöglichkeit, da er vieles miteinander vereinbaren muss: relative Barrierefreiheit, Möglichkeit Wohnen und Laden zu verbinden, räumliche Nähe zu Assistenzen, moderate Miete. Die in der Vermittlung beteiligte Behindertenbeauftragte Frau Ehrlichmann betonte, dass die „Wahrscheinlichkeit passende Räumlichkeiten für Herrn Lindenau im Bezirk zu finden gegen Null tendiert“.

Einmischung des LKA machte Vermittlung unmöglich

In der Vermittlung behauptete der Anwalt den Vermieter zitierend „Wir haben Angst“, denn es sei ein Brief vom LKA eingegangen, in dem mitgeteilt wurde, dass Herr Hellmann als „gefährdete Person“ geführt würde. Der Anwalt benutzte die Existenz von Postkarten, die seinem Mandaten geschickt worden seien, sowie den Verweis auf herabwürdigende Kommentare über den Vermieter auf Demonstrationen, um von den eigentlichen Verhandlungspunkten abzulenken. Damit verschob die Eigentümerseite den Fokus vom in seiner Existenz bedrohten Mieter auf den Vermieter. Letztlich wurden so unüberprüfbare LKA-Informationen zu einer „Bedrohungslage“ zum willkommenen Anlass genommen, die Vermittlung gar nicht ernsthaft zu versuchen.

Kann der Vermieter jetzt HG räumen lassen?

In der Urteilsverkündung, die den Räumungstitel brachte, sind nicht alle von HG genutzten Räume enthalten, so dass eigentlich auch die Polizei gewarnt sein sollte, hier vorschnell zu räumen. Die Polizei habe dem Vermieter geraten, „rasch räumen zu lassen, jedenfalls nicht in zeitlicher Nähe zum 1. Mai“, so Anwalt Wollmann. Es wäre nicht die erste Räumung, die sich hinterher als illegal herausstellen sollte. Doch das nehmen Vermieter im Zweifelsfall in Kauf, denn sie sind dann längst am Ziel: Das Haus ist entmietet, auch wenn der Weg dahin illegal war. Wenn erst einmal neue solvente Mieter/innen im Haus sind, ist alles vergessen.

Solidarisierung gegen Zwangsräumung wächst weiter

Bizim Kiez hat in HGs Nachbarschaft unter Ladenbetreiber/innen Unterschriften gesammelt und ist überall auf offene Türen und Ohren gestoßen. Alle wollen ihn als Nachbarn behalten, und ihnen allen steht vor Augen, dass sie mit ihren Gewerbemietverträgen überhaupt keinen Schutz vor den Verdrängungsprozessen durch die Gentrifizierung haben. Je mehr schicke Läden in den Kiez kommen, desto schneller und höher steigen die Mieten – im Gewerbebereich ohne Regulierung und mit der Folge, dass rasant Ladenbetreiber/innen verdrängt werden, die unsere Kieze lange Zeit geprägt und lebenswert gemacht haben. Es sind zum Teil genau die Häuser, die von Aktiven der Besetzungsszene der 1970er und 1980er Jahren vor dem Abriss gerettet wurden, aus denen jetzt die Mieter/innen verdrängt werden, damit Investoren mit den heute als schick geltenden Altbauten Kasse machen können.

Forderungen von Bizim Kiez zur Entspannung der Situation:

  • Wir wollen eine zu befürchtende heiße Konfrontation bei einer Zwangsräumung in unserem Kiez unbedingt vermeiden. Darum appellieren wir erneut an den Vermieter, HG eine Zukunft im M99 zu ermöglichen. Prüfen Sie ernsthaft sein Kompromissangebot, das die gegenseitigen Interessen weitgehend vereinen kann.
  • Wir fordern von der Polizei (LKA), keine eskalierende Einwirkung auf den Fall zu nehmen. Warum raten Sie dem Vermieter zu räumen, wenn der Räumungstitel nicht rechtlich abgeklärt ist? Wollen Sie eine Konfrontation? Wir fordern vom Innensenat Aufklärung über eine Einmischung des LKA in den Vermittlungsprozess.
  • Wir fordern endlich Schutzmechanismen für ansässige Gewerbetreibende in Milieuschutzgebieten, die keinerlei Schutz vor extremen Mietsteigerungen haben. Ihre Verdrängung zerstört gewachsene Kiezstrukturen, die für das nachbarschaftliche Zusammenleben unabdingbar sind.

 

Pressekontakt: internet@bizim-kiez.de

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