Ein zweites Wohnzimmer, kein Traum

Die Winter waren kalt, die Wohnungen hatten Ofenheizung, Kohlenschleppen war anstrengend, aber die Mieten waren billig. Internet gabs nicht, facebook auch nicht, Fernseher hatten nicht alle, es gab sowieso nur 5 Programme, 2 Ost, 3 West, aber jede/r hatte sein 2. Wohnzimmer. Sprich, es wurden mehr wache Stunden in der Kneipe verbracht als zu Hause.

Der Wrangelkiez am A…. von West-Berlin, wer nicht hierhin musste, kam auch nicht her. Ein Taxifahrer sagte mir einmal, weiter als bis zum Kotti sei er nie gekommen. Die Häuser verfielen, wer konnte zog weg in eine Wohnung mit Heizung, Bad und Innentoilette. Es blieben nur die Ärmsten und die Migranten. Die jungen Menschen, die Ende der 70er Jahren, Anfang der 80er – die meisten nicht aus Berlin- hierher zogen, in leer stehende Wohnungen, waren keine Gentrifizierer, nein,sie belebten den Kiez durch Leben und Kultur und trugen dazu bei, den Skandal der Abrisssanierung bekannt zu machen und gegen die Immobiliensprkulanten zu kämpfen. Ebenso die squatters, die sog, ‚Instandbesetzer‘. Heute sind die, die sich weiter engagieren, wieder auf der Straße für Bizim.

Ich kannte Leute, die mehrere Monate nicht über die Hochbahn hinweg aus dem Kiez herauskamen, die traf man/frau jeden Tag in der Kneipe, mittags zum Essen oder zum Kaffee sowie abends nach der Arbeit bis tief in die Nacht. Es waren Orte der Begegnung, für Bekanntschaften, zum Flirten oder/und zum Abschleppen. Clubs hießen Discos, und außer dem SO36 war weit und breit in Xberg nur gähnende Leere; Schöneberg, Charlottenburg, sogar Spandau waren angesagt.. 

Anfang der 80erhatte Ich 2 Stammkneipen hier im Kiez, das Kuckucksei („das Ei“), Wrangelstraße 79 und den Hecker, später Gino, heute Hopfenreich. In beiden gab es gut und satt Essen und das für wenig Geld.

Zum Hecker

Wandbild im Lokal „Hopfenreich“  (Aug. 2015)

Neulich wollte ich das Hopfenreich einem Freund zeigen, der mittlerweile aus Berlin weggezogen ist, der Arbeit hinterher, und ein gutes Bier trinken. Meine Schwärmerei über die vielen guten Biere hatten es ihm angetan; das heißt nicht, dass ich jetzt dort Stammkunde bin, aber mit dem Besuch geht frau/man oft dorthin, wo frau/man nicht regelmäßig hingeht.

Wir saßen am Tresen, dahinter 2 Schotten (? es hörte sich so an), tranken ein Berliner Bier, gebraut in Marzahn, das gibts! Regional trinken ist in! ich weiß, es gibt Bier aus Xberg, für den Tag, für die Nacht … Alles schon probiert! Dabei schwärmten wir von dem Hecker, weil wir das Wandbild im hinteren Zimmer entdeckt hatten. Und nun plötzlich fehlte uns der typische Hecker-Geruch, der einem/r in die Nase stieg sobald die Schwelle betreten wurde, es roch immer nach Sauerkraut: der Betreiber kam aus Baden und bot badische Küche an u.a. jeden Tag Sauerkraut. Daher auch der Namen „Zum Hecker“.

Friedrich Hecker (*1811 im Großherzogtum Baden; †1881 in Illinois, USA) war Rechtsanwalt, Politiker und radikaldemokra-tischer Revolutionär in den Staaten des Deutschen Bundes, insbesondere während der ersten Phase der Badischen Revolution im Rahmen der deutschen Revolution von 1848/49. Hecker propagierte radikaldemokratische, zum Teil auch gemäßigt sozialistische Ideen; er unternahm am 13. April 1848 von Konstanz aus einen bewaffneten revolutionären Aufstand gegen die Residenz in Karlsruhe, der als „Heckerzug“ in die Geschichte eingegangen ist. Hecker überschätzte jedoch die Teilnahmewillig-keit der Bevölkerung. Sein Zug wuchs innerhalb einer Woche zwar auf rund 800 Teilnehmer an, doch wurde er im Gefecht bei Kandern am Fuß des Südschwarzwalds von Truppen des Deutschen Bundes besiegt. Nach seiner Emigration infolge der Niederlage des nach ihm benannten Aufstands in die USA erlangte er während des Sezessionskrieges in der ersten Hälfte der 1860er Jahre als Offizier in der Armee der Nordstaaten zusätzliche Bedeutung. Besonders in Baden wird heute noch des Revolutionärs Hecker gedacht. Es gibt ein Friedrich-Hecker-Gymnasium in Radolfzell am Bodensee und eine Friedrich-Hecker-Schule in Sinsheim. (Wiki.)

Der Name und das Bild passten auch zu der politischen Zeit, zu dem Wirt und zu den Bärten und langen Haaren, die viele von uns trugen. Passt heute auf gar keinen Fall zu der heutigen Bierbar und dem heutigen Publikum. Mussten wir auch prompt feststellen.

Ein junger Mann, der zum Personal gehörte und sich später als Fabian vorstellte, sprach uns an, für uns eine Gelegenheit heraus zu finden, wieso dieses Gemälde hier noch zu sehen ist. „Wir fanden das so vor als wir die Tapeten der Vorgänger herunterrissen, und fanden es cool! aber wer das ist, kann ich Ihnen nicht sagen.“ Wir schon!

Fabian war begeistert so viel über seine Kneipe zu erfahren und war uns dafür sehr dankbar. „These two guys can from now drink what ever they want, for free!“ Wir haben das Angebot angenommen, in Maßen, und haben uns bedankt.

Text & Foto: François Martin

P.S. das Lokal „Zum Hecker“ wurde in den 90ern vom „Bei Gino“ abgelöst vom Pizzabäcker von gegenüber. Eine andere Truppe übernahm später „Gino“, behielt den Namen und gab 2013/14 auf, als ihr die Miete verdoppelt wurde.

2 Kommentare zu “Ein zweites Wohnzimmer, kein Traum

  1. Arno

    Ja, ja – ganz genau so wars 😉
    „Die Winter waren kalt … Der Wrangelkiez am A…. von West-Berlin, wer nicht hierhin musste, kam auch nicht her. Ein Taxifahrer sagte mir einmal, weiter als bis zum Kotti sei er nie gekommen … Die Häuser verfielen, wer konnte zog weg in eine Wohnung mit Heizung, Bad und Innentoilette .. Es waren Orte der Begegnung, für Bekanntschaften, zum Flirten oder/und zum Abschleppen. Clubs hießen Discos, und außer dem SO36 war weit und breit in Xberg nur gähnende Leere; Schöneberg, Charlottenburg, sogar Spandau waren angesagt.. “
    Ja, ja – janz jenau so wars 😉 – und wir kamen manchmal mit Toilettentasche und Handtuch durch den Gastraum des „Kuckucksei“ in der Wrangelstr. direkt zum Tresen mit der Bitte für ca. 1,50 Deutsche Mark das Wannenbad incl. heißem Wasser im ersten Stock eine Weile benutzen zu dürfen (einen Boiler oder Durchlauferhitzer konnten wir uns zu Hause noch nicht leisten) . Oh Mann …
    https://youtu.be/4yusyqVluKI

  2. Gela

    inzwischen gebe ich meine kl. Rente für eine 1Zi-Whg in HH aus-aber das SO36 feeling von ’69 ist wieder da wenn ich das vorherige lese.Um die Ecke Naunynstr. das Kreuzberger Vereinshaus“ im2.ten HH in der Adalbertstr.Tische unter ner alten Kastanie + der amtierende Sheriff des xberger Westernclub im selben Hof auch „ausser Dienst“-dann ohne Cowboyhut+Stern-am Tresen neben schwarzgekleideten Anarchos was ne Mischung!Die Malkiste in der Ohlauer,Wirtshaus Litfin,Elefantenpress,nette Graffiti:’ihr schlaft noch in den Faschismus'(!) der Trompeter oben in der U-Bahn Kotti,Hoffmann’s Comic Theater, die Mauer fast in jede Richtung und kein Hipster nirgends.Sigh!