„Tag und Nacht am Görlitzer Bahnhof“ – Kiezgeschichte aus dem Frühjahr 2016

Vor einigen Wochen kam ich Samstag nachts auf dem Weg nach Hause am Görlitzer Bahnhof vorbei. Es war recht belebt, und wie das so ist waren auch einige betrunkene Menschen unterwegs. Nichts Ungewöhnliches, aber mir fiel auf, dass einige betrunkene weisse Typen die Skalitzer überquerten, und laut „Ghana-Town!“ und „Bambaklad!“ riefen. Letzteres ist ein Wort, das in der Musikrichtung Dancehall oft benutzt wird. Es ist ein Klischee, und es war offensichtlich, dass sie sich über die schwarzen Dealer lustig machten. Ich ging an den Buden vorbei durch den Bahnhof und blieb neben den Stufen stehen, für den Fall, dass es eskalieren würde. Einer der Typen und ein Dealer kamen sich gefährlich nahe, aber die Spannung löste sich zum Glück recht schnell.

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Ich fragte einen anderen, ob sich die weissen Typen rassistisch verhalten, oder ob alles ok sei. „No, no man, people drink too much, you know, too much alcohol …“ Er klang beschwichtigend, fast entschuldigend, und machte eine Geste mit seinem Daumen als würde er eine Flasche an die Lippen führen. Da ich mich an ihnen interessiert gezeigt hatte, umringten mich gleich zwei weitere Dealer, und einer sprach mich an. Ich fragte, ob er Deutsch oder Englisch spricht. Er verneinte, und fragte mich im Gegenzug, ob ich Spanisch spreche. Ich verneinte. Dann fragte er, ob ich Französisch spreche. Ich hab drei Semester Französischunterricht gehabt, also wagte ich eine gebrochene Diskussion mit ihm. „Was willst du?“ – „Ich will wissen, ob diese Typen sich euch gegenüber rassistisch verhalten.“ – „Lass uns malein bisschen weiter auf die Seite gehen.“

Er nahm mich ein paar Schritte beiseite Richtung Ampel, weg von den Stufen. „Sind diese Typen Rassisten?“ – „Bist du denn kein Rassist?“ Er schaute mich herausfordernd an. Ich schaute weg. „Das ist eine gute Frage … Ich will keiner sein …“ – „Ah ja … willst du Gras kaufen?“ – „Nein, nein, danke, ich will nichts kaufen.“ ‚Diese Frage musste ja kommen. „Kannst du mir vielleicht etwas Geld geben? Ich hab Hunger, ich will mir was zu Essen kaufen, könntest du mir etwas Geldgeben, ich hab Hunger …“ Damit hatte ich nicht gerechnet. Ich stockte. Dann der Motzverkäufer-Reflex: „Sorry man, ich kann dir nichts geben“ – „Aha … Willst du vielleicht etwas Koks kaufen?“ Ich runzelte die Stirn. „Was? Nein, nein, ich will kein Koks …“ Die Diskussion schien beendet. Ich entschuldigte mich, und gab ihm die Hand, die er enttäuscht und ungeduldig schüttelte. Ich ging nach Hause, und er ging zurück zu den Bahnhofsstufen.

Am nächsten Tag, auf dem Heimweg, kam ich die Bahnhofstreppen herunter, und unter den Dealern, die manchmal dort auf potentielle Käufer warten, war auch mein Bekannter von der Nacht davor. Wir erkannten uns und gaben uns die Hand. Ich lächelte etwas verlegen, aber er lachte laut, wie betrunken. Wahrscheinlich hatte er die ganze Nacht dort gestanden, und wer weiss, was er sich reinballern musste, um solange durchzuhalten.

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Einige Tage später kam ich tagsüber am Görlitzer Bahnhof vorbei und fand dort ein Fotoshooting vor. Eine hippe Fotografin, die große schwarze Dreiecke um den Hals trug, knippste Fotos von Dealern. Sie hatten Brillengestelle auf mit schwarze Balken vor denAugen, wie man es von Fotos kennt, und trugen Hüte, an denen noch das Preisschild hing.
Wieder fiel mir das Ganze negativ auf, wieder blieb ich stehen, um es mir anzuschauen. An einer Wand stand ein Typ neben einem Karton voller Hüte und schaute etwas nervös beim Shooting zu. Ich ging auf ihn zu. „Hi. Was ist das hier?“ – „Wir machen ein Fotoshooting, wir sind ja Nachbarn, hier hinten ist unser Laden, Panic Room … wir haben auch eine Agentur …“ „Wo kommen die Fotos dann hin?“ – „Auf unsere Seite.“

Der Typ schaute mich beim Sprechen kaum an. Das Shooting forderte immer wieder seine Aufmerksamkeit. „Findet ihr das nicht scheiße, die Dealer für eure Werbekampagne zu benutzen?“ Er zuckte unbeeindruckt die Schultern. „Wir finden, das ist real.“. „Real“ ist ein Hiphop-Szene-Wort und steht für Authentizität.

In mir kochte es hoch, aber ich dachte mir, dass man vielleicht mal die Leute sprechen lassen sollte, bevor man sie in Schubladen steckt. „Wir arbeiten auch mit der Naunynritze zusammen und mit dem Strassenfeger … Kennst du die Kampagne Home Street Home? Das war von uns. Manche Leute meinen ja, dass so etwas nix bringt …“ Ich nickte vorsichtshalber anerkennend. „Würdet ihr denn auch mit Leuten was zusammen machen, die sich wirklich um Refugees kümmern? Ein Shooting ist ja ok, aber was gebt ihr diesen Leuten zurück …?“ – „Gerne, wenn du eine Idee hast, schick uns eine Mail, und wenn das gerade mit unserer Arbeit zusammenpasst, können wir sicher was machen.“ –
„Nein – ich meine, würdet ihr denn mit bestehenden selbstorganisierten Gruppenzusammenarbeiten? Es gibt ja schon einige in Kreuzberg – Bizim Kiez zum Beispiel…. Die machen zwar gerade was anderes, aber Refugees haben die auch auf dem Schirm …“

Es wirkte nicht so, als kenne er Bizim Kiez. „Ja, das muss man sehen. Projektbezogen sicher, wenn die Idee gut ist, wie gesagt …“ Er wippte nervös und behielt die Fotografin über meine Schulter hinweg im Auge. „Hättet ihr mal Lust, auf ein Plenum zu kommen?“ – „Wir haben nicht viel Zeit. Wie gesagt, projektbezogen gerne, da kann man immer drüber reden, aber jetzt einfach so auf ein Treffen gehen, das sehe ich nicht.“

„Ihr meint, ihr seid hier Nachbarn – wollt ihr dem Kiez denn nichts zurückgeben? Es passiert doch schon total viel hier, ihr könntet euch doch einbringen …“ – „Ja, es stimmt schon, unser Laden und die Agentur haben schon das Gentrifizierer-Image. Stimmt ja auch …“

IMG_20160520_205506170Er war zu sehr damit beschäftigt, auf das Foto-Shooting zu achten. Ich blieb bei ihm stehen, und suchte noch eine Weile den Anknüpfungspunkt. „Ich bin auch Nachbar, wohne gleich um die Ecke und würde gerne mehr über dieses Projekt von euch erfahren. Ich weiss, ihr seid sehr beschäftigt, kann ich mir denken, aber vielleicht – wenn du Bock hast – können wir ja mal zu deiner Mittagspause ’nen Falafel essen gehen … – „… oder ein Bier trinken“, nickte er – „… und du kannst mir ein bisschen mehr erzählen? Ich bin in verschiedenen Sachen hier im Kiez engagiert, und was ihr macht, klingt nicht uninteressant … Vielleicht, wenn du mir deine eMail-Adresse gibst …?“

„Auf den Hüten des Foto-Shootings stand „Barely Legal„, auf den Postern der Werbekampagne steht unter den Fotos „Dein neuer Dealer am Görli„.“

von Konstantin